Den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, der jedes Jahr am 27. Januar im Deutschen Bundestag begangen wird, gibt es seit 1996. In den meisten Nachrufen auf den kürzlich verstorbenen Bundespräsidenten Roman Herzog war zu lesen, dass er es war, der diesen Gedenktag erst durchgesetzt habe. Was das politische Prozedere betrifft, ist das gewiss richtig. Tatsächlich war es aber wohl so, dass Mitte der 90er-Jahre die Zeit reif war für solch eine Form des Gedenkens, und dem Präsidenten Roman Herzog fiel schließlich die Aufgabe zu, eine würdige Form dafür zu finden.
Den zeremoniellen Rahmen, den der Deutsche Bundestag und dessen Abgeordnete diesem Gedenktag seither geben, ist angemessen zurückhaltend und eindrucksvoll zugleich. Es gibt ein musikalisches Programm, aber im Mittelpunkt steht das gesprochene Wort, dem immer wieder aufs Neue die anspruchsvolle Aufgabe aufgebürdet wird, die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus wachzuhalten. Nicht selten gelang dies auf atemberaubende Weise.
Die sich ständig wandelnde Erinnerungskultur ist eine Stärke
Der nüchterne Bericht, den Marcel Reich-Ranicki 2012, ein Jahr vor seinem Tod, mit hörbar gebrochener Stimme am Holocaust-Gedenktag im Bundestag vortrug, ist bis heute ein unvergessener Beleg für die Bedeutung dieses Tages und seiner Zeremonie. Dabei ist es durchaus paradox, dass das Gebot der Erinnerung und die Mahnung, nicht zu vergessen, in Gestalt eines staatlichen Auftrags daherkommen. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist zur Staatsräson geworden, und es gehört zur bemerkenswerten Entwicklung der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass es nicht eigens von oben verordnet werden muss, sondern weithin gesellschaftliche Akzeptanz genießt.
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Aber diese Akzeptanz ist brüchig. Längst drängen denunziatorische Kräfte in den gesellschaftspolitischen Raum, die weitgehend ungestraft damit kokettieren, das Holocaust-Gedenken als „dämliche Bewältigungskultur“ zu bezeichnen. Das ist schwer zu ertragen. Die stärkste Antwort darauf aber wird eine sich ständig wandelnde Erinnerungskultur sein, die es nicht dabei bewenden lässt, in den Pathosformeln gesellschaftlicher Selbstverständigung zu verharren. Das Gedenken vom Freitag war eine Antwort in diesem Sinne.