Das „kleine Auschwitz“ bei Berlin: Geschichte eines verdrängten Ortes der Shoah

Sowjet-Speziallager, Vertriebenenelend, DDR-Antifa-Routine hielten jahrzehntelang das ehemalige Vernichtungslager Jamlitz im Abseits. Jetzt ändert sich das.

Der Historiker Dr. Andreas Weigelt arbeitet seit 30 Jahren gegen das Vergessen des früheren Vernichtungslagers Jamlitz. Doch auch die Opfer des sowjetischen Speziallagers bekamen ihren Platz. Im Hintergrund die Stelen der Gedenkstätte.
Der Historiker Dr. Andreas Weigelt arbeitet seit 30 Jahren gegen das Vergessen des früheren Vernichtungslagers Jamlitz. Doch auch die Opfer des sowjetischen Speziallagers bekamen ihren Platz. Im Hintergrund die Stelen der Gedenkstätte.Volkmar Otto

Zwischen Kiefern, Birken und Siedlungshäuschen liegt der Tatort der Shoah. Zurückhaltend, fast ängstlich, den hier zu Tode gekommenen Menschen zu nahe zu treten, reihen sich die grünlich schimmernden Glastafeln der Informationsstätte Lager Jamlitz unter den Bäumen auf. Ein Metallsteg führt etwa 20 Zentimeter über dem Boden des Unheils – aus Respekt vor dem Lagergrund, auf dem SS-Wachmannschaften zwischen Herbst 1943 und dem 4. Februar 1945 kaum vorstellbare Gräuel begingen.

Mindestens 6600 Häftlinge, womöglich mehr, sollten hier, etwa 100 Kilometer südöstlich von Berlin den Truppenübungsplatz „Kurmark“ für die Waffen-SS errichten. 90 Prozent von ihnen waren Juden, viele wurden direkt aus Auschwitz nach Jamlitz herbeigeschafft.

Das Lager Jamlitz gehört zu den wenigen Orten auf deutschem Boden, wo Juden im Zuge der „Endlösung“ planvoll vernichtet wurden. Die sechs großen Vernichtungslager ­Chelmno, Belzec, Sobibor, Treblinka, Majdanek und Auschwitz-Birkenau richtete NS-Deutschland weit im Osten ein, um die „Endlösung“, den industriemäßig organisierten Mord an Millionen Menschen, im Ungefähren, im nicht genau Bekannten zu belassen.

Tod durch Arbeit und Entkräftung gehörte auch in Jamlitz zum Plan. Juden bekamen weniger zu essen als andere Häftlinge, wurden noch elender untergebracht, noch brutaler behandelt und zu den härtesten Arbeiten getrieben. In keinem der vielen Außenlager des KZ-Systems Sachsenhausen erreichte die Sterberate Höhen wie im abgelegenen brandenburgischen Jamlitz.

Erinnerungsroutine vermeiden

Wenige Meter neben dem Metallsteg und den sachlich gehaltenen Informationen auf den Glastafeln – Biografien, Lagepläne, geschichtliche Daten – markiert ein heller Sandstreifen den rechteckigen Umriss einer der Lagerbaracken. Zierliche Stelen säumen diesen Weg. Hier kommen die sehr unterschiedlich Beteiligten zu Wort: Häftlinge, Angehörige von Ermordeten, SS-Leute, Zeugen aus dem Dorf.

Die Zitate der Opfer, der Täter, der am Rande Stehenden wühlen auf – insbesondere die Erinnerungen an die letzten Tage des Lagers. 1500 Menschen wurden auf einen Todesmarsch nach Sachsenhausen getrieben. Die in zwei sogenannten Schonungsblocks zurückgebliebenen mehr als 1300 Menschen erschossen die Wächter zwischen dem 2. und 4. Februar 1945 und verscharrten sie in Massengräbern. Eines wurde gefunden, vom zweiten mit etwa 700 Menschen fehlt jede Spur.

Dieser äußerlich so unscheinbare Gedenkort lässt eingeübtes Erinnerungsreden verstummen. „Im Gedenken spielen nicht wir als die Macher und Versteher eine Rolle, sondern die damals Beteiligten“, erläutert Andreas Weigelt, Leiter der Dokumentationsstelle Lager Jamlitz, das Konzept. Der im Nachbarort Lieberose geborene Historiker arbeitet seit 30 Jahren weitgehend ehrenamtlich daran, diesen Ort nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Eigentlich war er schon versunken – die Baracken abgeräumt, auch das Lagertor und der Lagerstein, den einst die Deutsche Arbeitsfront aufgestellt hatte. Noch im Jahr 2003 erinnerte am authentischen Ort dieses brutalsten Lagers nahe der Hauptstadt nichts an das Geschehen. Warum senkte sich der Nebel des Vergessens über diesem Schreckensort ganz besonders dicht?

Tausende Tote im Speziallager 6

Eine Erklärung liegt auf der anderen Seite des Weges, der links von der Straße aus Lieberose abgeht und durch eine kleine Siedlung zum Gedenkort führt. Östlich dieses Weges erinnern Informationstafeln an das sogenannte Speziallager Nummer 6.

Kaum war das KZ aufgelöst, rückte die Rote Armee ein. Im September 1945 richtete die sowjetische Geheimpolizei in den übernommenen KZ-Baracken eines jener Lager ein, in das überwiegend kleine Nazis mit niederen Funktionen kamen, um sie „aus der Gesellschaft zu isolieren“, wie Andreas Weigelt ihre Funktion beschreibt. Zehn solcher Lager existierten in der sowjetischen Besatzungszone. Das Jamlitzer bestand bis April/Mai 1947. Von insgesamt 10.300 Insassen verloren hier mindestens 3380 Menschen ihr Leben.

Der Ort der Erinnerung an die Internierten liegt durch den Weg diskret getrennt vom Mordplatz der SS und zu ebener Erde, nicht erhaben. Die Differenzierungen sind subtil, aber sichtbar und wohl durchdacht. Verschwiegen wird nichts.

Das Speziallager blieb nicht die letzte Kriegslast für die etwa 300 Einwohner von Jamlitz. Etwa 1300 Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Gebieten im Osten wurden zu Nachbarn. Diese verstörten, entwurzelten Menschen lebten überall, wie Andreas Weigelt berichtet: auf dem Lagergelände, in den SS-Unterkünften. Über Schuld und Unschuld müsse man angesichts der Not gar nicht reden, sagt er. Die Menschen sahen zu, dass sie am Leben blieben und Halt fanden. Mit den Massakern im KZ hatten sie nichts zu tun; bald besiedelten sie das Lagergelände auf Dauer. Mit der Bodenreform gingen zwölf Parzellen an Vertriebenenfamilien, die winzige Häuschen errichteten und zur Selbstversorgung gärtnerten.

Eine neue historische Schicht überdeckte die alten, doch der in den Boden eingegrabene Geist des Schreckens verflüchtigte sich nicht. Schon Mitte der 1950er-Jahre begannen der örtliche Bürgermeister, ein linker Sozialdemokrat, der die Schikanen der NS-Zeit durchgestanden hatte, und ein parteiloser Lehrer nach Spuren des KZs zu graben. Sie gedachten alljährlich zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. September der Toten – lange bevor Staat und Partei das Gedenken zum Teil der Staatsdoktrin machten, die da lautete: Wir sind das andere, das bessere Deutschland.

Frühe Erinnerung von unten in der DDR

Trotz der aus Stalins Sowjetunion 1953 heranschwappenden antisemitischen Welle, die auch zur Abwicklung des Verbandes der Verfolgten des Naziregimes (VVN) im Februar 1953 führte, regte sich nach Weigelts Recherchen vielerorts in der sowjetischen Besatzungszone ein Erinnern von unten, zum Beispiel auf jüdischen Friedhöfen, noch ohne festen Gedenkkanon.

Amtlich und von oben beginnt die Gedenkgeschichte 1971 mit dem Auffinden des Massengrabs in einer Kiesgrube bei Staakow. Zufall oder nicht – Weigelt jedenfalls weiß von einem Altansässigen, dass der Ort an der Kiesgrube im Volksmund immer „Judenberg“ hieß. „Man verband Halbwissen mit einem Begriff. Alle wussten, was der Judenberg ist“, sagt der Historiker.

Auch solch scheinbar banalen Orten haftet das Vergangene an – einer Kiesgrube oder dem Jamlitzer Waldstück.

Künstliche Gedenkorte – inhaltlich hohl

Das Vergangene vergeht nicht, erst recht nicht am Ort der Täter schlechthin: Wir springen nach Berlin-Mitte, Gertrud-Kolmar-Straße/In den Ministergärten, zu einem banalen Parkplatz – zum Führerbunker. Dort, wo Adolf Hitler sein Leben beendete, zieht es Menschen aus aller Welt hin. Man kann dort täglich sehen, wie sie mit ernsten Gesichtern den Berichten lauschen.

Ein paar Meter weiter ist zu besichtigen, wie künstliche Gedenkorte hohl bleiben. Mit gewaltigem Wirkungsanspruch liegt das Denkmal für die Juden Europas, die zentrale Holocaustgedenkstätte Deutschlands, flächig-wuchtig da – auf einem Boden, der in keinerlei Verbindung zu den Opfern des Holocaust steht. Juden sollten zu dem Projekt „nicken“ und ihren Widerspruch herunterschlucken. Seit der Eröffnung 2005 kamen Millionen – die meisten andächtig und respektvoll. Aber viele hüpften auch über die schweigenden Blöcke. Heute gibt es kaum einen ohne Risse. Das Mahnmal bröselt.

Das Mahnmal in Lieberose im DDR-Antifa-Stil. Kilometerweit weg vom Lager und ohne Erwähnung, dass 90 Prozent der Ermordeten Juden waren.
Das Mahnmal in Lieberose im DDR-Antifa-Stil. Kilometerweit weg vom Lager und ohne Erwähnung, dass 90 Prozent der Ermordeten Juden waren.Volkmar Otto

Ganz ähnlich geht es dem Bauwerk, das 1973, fünf Kilometer von Jamlitz entfernt, in Lieberose platziert wurde. Ein Antifa-Gemäuer im DDR-Stil jener Zeit, gut für Fahnenappelle und Kranzniederlegungen. Es entstand zwei Jahre nach dem Fund der 577 Ermordeten in der Kiesgrube. Ihre Überreste wurden ohne Rücksicht auf jüdische Gesetze kremiert. Eine Urne versenkte man im Ringgrab.

Seit dem Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn im Juni 1967 galt der jüdische Staat in der DDR-Propaganda als Aggressor. Jüdisches passte nicht in die politische Lage. Die Idee der SED-Kreisleitung von 1965/66, gemeinsam mit dem Sachsenhausenkomitee am Außenlager Jamlitz eine Gedenkstätte zu errichten, blieb chancenlos. Immerhin wirkte das Mahnmal Lieberose als Anknüpfungspunkt für Kontakte zu Überlebenden und Familien ehemaliger Häftlinge.

Aufrichtig erinnern, ein ewiger Kampf

Mitte der 1990er-Jahre nahmen endlich die 1993 gegründete Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Zentralrat der Juden Jamlitz in den Blick. Und 1994 begann Andreas Weigelt – zunächst auf befristeter ABM-Stelle, dann weitgehend im Ehrenamt – mit seinen Forschungen beharrlich und voller Empathie für die Opfer gegen das Vergessen zu arbeiten. 2003 eröffnete die erste Freiluft-Informationsausstellung auf dem Lagergelände, in Trägerschaft der örtlichen Evangelischen Kirchengemeinde, wissenschaftlich betreut von der Stiftung und begleitet vom Zentralrat. Nach einem holprigen Beziehungsbeginn zwischen Gedenkstiftung und regionalen Initiativen rauften sich über die Jahre die Beteiligten über Missverständnisse, konzeptionelle Differenzen und persönliche Animositäten hinweg zusammen.

Ein erstes Grundstück wurde gekauft, dort entstand 2018 der Gedenkort mit den kleinen Stelen. Die Grabung nach dem dort vermuteten zweiten Massengrab im Jahr 2009 brachte nicht die erhofften Ergebnisse. Das Grundstück nebenan, dem eigentlichen Standort der Schonungsblocks und dem Schauplatz des Massakers, ging zunächst für einen kleinen Preis an einen Immobilienhändler – eine verpasste Chance.

Erst im vergangenen Jahr kaufte die Stiftung das Gelände, nun allerdings um ein Vielfaches teurer. Insgesamt wurde für den weiteren Auf- und Ausbau der Gedenkstätte etwa die Hälfte des Geldes ausgegeben, das der Bund 2022 aus dem Vermögen ehemaliger DDR-Parteien und -Massenorganisationen zum Ausbau der Gedenkstätte zur Verfügung gestellt hatte.

Auf gutem Wege zum würdigen Ort

Der Rest wurde zurückgegeben, weil sich Bauplanungen verzögerten. Prof. Axel Drecoll, seit 2018 Leiter der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, stellt klar: Die Kernsanierung eines denkmalgeschützten, baufälligen Siedlerhauses unter Zeitdruck ist kompliziert.

Als Zeugnis der Nachkriegsgeschichte soll das Gebäude in der Originalsubstanz erhalten und als Büro und Archiv der künftigen Gedenk- und Bildungsstätte Jamlitz genutzt werden. Daneben soll ein Pavillon für Veranstaltungen entstehen. Drecoll ist zuversichtlich, dass die Gedenkstätte Jamlitz-Lieberose, die in diesem Jahr in die Stiftung integriert werden soll, weiter auf die Unterstützung von Land und Bund bauen kann und sich dadurch die Planungen für den Gedenkstättenbau realisieren lassen.

Ein symbolisches Grab wurde auf Initiative von Jugendlichen aus dem nahe gelegenen Projekt des Vereins Karuna angelegt. Immer wieder finden sich Zeichen, dass Menschen in Jamlitz das Gedenken suchen – Zeichen wie dieser Stein mit Davidstern.
Ein symbolisches Grab wurde auf Initiative von Jugendlichen aus dem nahe gelegenen Projekt des Vereins Karuna angelegt. Immer wieder finden sich Zeichen, dass Menschen in Jamlitz das Gedenken suchen – Zeichen wie dieser Stein mit Davidstern.Volkmar Otto

Zwei auf dem jüngst hinzugekauften Grundstück gut sichtbare grasbewachsene Hügel werden kenntlich als Aufschüttungen zum Ausgleich des leicht abfallenden Geländes, um darauf die Schonungsblocks zu errichten – buchstäblich die letzten sichtbaren Spuren. Zum ersten Mal wird die Gedenkstätte wohl ab dem kommenden Jahr mit fest angestelltem Personal arbeiten. Nur im Ehrenamt „geht das nicht weiter“, sagt Drecoll. Andreas Weigelt, solle „auf jeden Fall“ einbezogen sein, auf seine Kenntnisse wolle man nicht verzichten.

Nachhaltig lokal verwurzelt

Für zunächst zwei Stellen wird Personal gesucht. Weigelt hätte am liebsten Leute aus der Region dabei, er hält nicht viel von kurzatmigem Bus-Gedenkstättentourismus, will das Gedenken lieber weiter fest lokal verwurzeln. Kürzlich habe ein Lehrer aus der Gegend vom Gewinn einer Geschichtsstunde vor der Haustür gesprochen, von „unserem kleinen Auschwitz“, dem sich die Bewohner stellen, es als Teil ihrer örtlichen Geschichte annehmen. Mehr als 80 Jahre hat es gedauert bis hierhin.

Der Bahnhof nebenan, von dem die Gleise direkt nach Auschwitz führten, heißt heute Justus-Delbrück-Haus nach einem NS-Widerständler, der unter falschem Verdacht ins Speziallager kam und starb. Im alten Bahnhof leben jetzt Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen, betreut vom Berliner Verein Karuna. Den jungen Leuten ist klar, dass solche wie sie selber in der NS-Zeit leicht im KZ endeten. Sie haben die Gedenkstätte zu ihrer Angelegenheit gemacht, entwickeln Ideen, organisieren Veranstaltungen. Regelmäßig kommen fast 100 Menschen. Es sieht so aus, als könnte die Idee der lokalen Verankerung weit tragen.

Veranstaltungshinweis: Unser Nationalsozialismus. Buchpremiere, Autor Götz Aly im Gespräch mit Jens Bisky, Donnerstag, 2. Februar, 20 Uhr, Pfefferberg-Theater