Wie der „Schlagbaum“ nach Russland und die „Steppe“ nach Deutschland kamen
Wandernde Wörter: Europa ist auch durch sprachlichen Austausch verbunden. Sprachlosigkeit und neue Mauern entfremden auf Dauer.

Berlin-Eine Zeitung hat jüngst Beispiele für schöne und einzigartige Worte aus anderen Ländern gebracht. Dazu gehören „Gluggavedur“ (isländisch: Schmuddelwetter zum Aus-dem-Fenster-Gucken), „Poronkusema“ (finnisch: Abstand zwischen Urinmarken eines Rentiers) und „Pochemuchka“ oder besser: „Potschemutschka“ – (russisch: eine Person, die zu viele Fragen stellt). Man könnte es mit „Warumchen“ übersetzen, denn „potschemu“ heißt: warum, weshalb, wieso.
Begeisterung über die Nacktschnecke
Auch das Deutsche kennt sehr viele Wörter, die es anderswo nicht gibt. So begeistern sich englischsprachige YouTuber zum Beispiel in ihren Videos an Begriffen wie Ohrwurm, Weltschmerz, Zugzwang, Torschlusspanik, Fremdschämen, Schadenfreude, Fernweh, Kummerspeck, Weichei, Erklärungsnot, Schnapsidee, Fingerspitzengefühl, Sehnsucht, Kopfkino und Geborgenheit.
„Ich wünsche, wir würden sie im Englischen nutzen“, sagt eine in Deutschland lebende Amerikanerin, fasziniert von der Bildkraft deutscher Wörter, ob es die Nacktschnecke, das Faultier, die Glühbirne, der Staubsauger oder die Rolltreppe sind. Sie glaubt, dass „naked snail“, „lazy animal“, „glowing pear“, „dust sucker“ und „rolling stairs“ das Englische beleben könnten.
Wir erkennen oft nicht mehr, wie originell und treffend diese Wörter sind, die wir nach Belieben zusammensetzen können. Auch mein russischer Freund Sascha hat deutsche Wörter gesammelt. Er erzählte mir, wie viele davon im Russischen Einzug gefunden haben: vom „Buterbrod“ (auf dem meist gar keine Butter ist) über „Ziferblat“, „Brandmauer“, „Parikmacher“ (Friseur), „Schlagbaum“ (Barriere, Schranke), „Rjuksak“ (Rucksack), „Schtempel“ (Stempel, Siegel), „Potschtamt“ (Post) bis zu „Schtraf“ (Geldstrafe, Buße), „Galstuk“ (Halstuch), „Gastarbaiter“, „Bruderschaft“ und „Zeitnot“.
„Mann und Weib sind ein Leib“
Aus den russischen Weiten wiederum kamen Wörter wie Steppe, Datsche, Samowar, Kosmonaut, Samisdat (für Selbstverlag), Troika, Ukas, Pogrom, Zobel und Schamane zu uns (das letzte stammt aus der mandschu-tungusischen Sprache).
Sascha sammelte auch Sprichwörter. „Mann und Weib sind ein Leib“ zum Beispiel, das zitierte er gern. Es ist ein russisches Sprichwort, ins Deutsche übersetzt. Wie auch diese, die sich vielleicht Putin mal zu Herzen nehmen sollte: „Jagst du zur selben Zeit zwei Hasen, wirst du gar keinen fangen“, „Meine Zunge ist mein Feind“ und „Der Tod ist ein Riese, vor dem auch der Zar die Waffen strecken muss“.
Saschas Tochter ging übrigens in Jaroslawl in eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht. In den Fluren hingen deutsche Sprichwörter. Eines hing direkt an der Küche. Es hieß: „Hunger ist der beste Koch.“
Zurzeit denke ich oft an Sascha und seine Familie. Ich weiß nicht, was sie gerade tun, was sie denken. Wir haben keinen Kontakt, alle Verbindungen sind abgerissen. Ich weiß nur: Das darf kein Dauerzustand sein. Sich fremd zu werden, nicht mehr miteinander zu reden – das führt nie zu etwas Gutem, ob in einer Familie oder zwischen Nationen. Eine Zukunft haben wir am Ende nur gemeinsam.