Humboldt-Universität: Protest und Widerstand, aber keine Revolution

Berlin - Für 19 Uhr war die Veranstaltung angesetzt. Als ich um 18.35 Uhr kam, war das Audimax der Humboldt-Universität noch nicht geöffnet. Die Massen stauten sich im Treppenhaus. Als wir kurz darauf eingelassen wurden, füllte sich der Saal schnell. Sehr viele Chilenen und andere Lateinamerikaner und in jeder Reihe mindestens zwei, drei Damen oder Herren, die die sechzig schon seit ein paar Jahren erreicht hatten.

Die Podiumsteilnehmer kamen und kamen nicht. Ein Mann mit langen schwarzen Locken und einem sehr schönen dunkelfarbenen, dezent gestreiften Jackett nutzte seine Chance, klatschte in die Hände bis es mucksmäuschenstill war und sagte: „Es sind so viele politisch Interessierte hier – woanders hätte er wohl von Genossen gesprochen – , da frage ich einfach einmal. Ich suche ein Zimmer. Gibt es hier jemanden, der ein Zimmer für mich hat?“

Gelächter, aber auch zwei Angebote. Er trug seine Telefonnummer in ein Notizbuch ein, und er notierte sich eine andere. Na ja, es werden Email-Adressen gewesen sein. Er ging zurück auf seinen Platz.

Jetzt klatschte wieder jemand. In der ersten Reihe. Keiner kümmerte sich darum. Dann wurde klar: Er beklatschte Camila Vallejo. Die chilenische Studentenführerin wird im April 24 Jahre alt und ist schon eine Weltberühmtheit. Am Mittwochabend schloss sie ihre Deutschlandtournee im vollgefüllten Audimax der Humboldt-Uni ab. Sie wurde begleitet von Karol Cariola, der Chefin der Kommunistischen Jugend Chiles und von Jorge Murúa, dem Vorstandsmitglied des chilenischen Gewerkschaftsverbandes CUT.

Die Veranstaltung wurde organisiert von der Rosa Luxemburg Stiftung der Partei die Linke. Aber sprechen wir von Camila Vallejo. Sie ist nicht mehr Sprecherin der Studentenorganisation. Sie wurde abgewählt, und wer ihr zuhört, der versteht das ein wenig. Sie agitiert nicht. Sie analysiert nicht. Sie erzählt auch nicht. Sie stellt fest. Das hört sich etwa so an:

„Der Erfolg der studentischen Proteste in Chile ist nicht allein ein Erfolg der Studenten. Er ist der Erfolg eines breiten Bündnisses. Er hat seinen Grund darin, dass man verstanden hat, dass die Fragen der Ausbildung nicht nur Fragen der Auszubildenden sind. Das sind Fragen der ganzen Familie, der Arbeiter und Angestellten, der ganzen Gesellschaft. Der Erfolg ist nicht das Resultat einer spontanen Erhebung, sondern das Ergebnis eines langen Prozesses, der bis in die Zeit vor der Militärherrschaft zurückreicht. Unser Protest ist eine Reaktion auf das Scheitern des Neoliberalismus im Bildungssektor. Er ist aber auch im Gesundheitswesen, auf dem Wohnungsmarkt, überall, gescheitert. So verbindet sich der Protest der einen mit dem der anderen. Das ist die Ursache für unseren Erfolg.“

Es gibt nur einmal einen Zwischenapplaus, als sie an die Leistungen der Regierung Allende vor vierzig Jahren erinnert. Da klatschen die Berliner Exilanten. Man kann sich denken, dass wenn in einem Land mit knapp siebzehn Millionen Einwohnern, bei großen Demonstrationen über eine Million Menschen zusammen kommen, andere, radikalere Töne – gerade unter Studenten – mehr Zulauf haben, als die ruhige Botschaft der Camila Vallejo. Das Wort Revolution nahm sie nicht in den Mund, von Imperialismus war keine Rede. Sie sprach von Arbeitern, nicht von Genossen. Ein gutes Zeichen, denkt sich der ferne Beobachter, der das dauernde Geschrei von lucha, revolucion, companero usw. noch in den Ohren hat.

Paula Rauch, vor zwei Jahren Schüleraktivistin, heute Mitglied der Bundesgeschäftsführung von Die Linke, SDS, erinnert an die Erfolge der Protestbewegungen der vergangenen Jahre: „Es gibt nur noch zwei Bundesländer, in denen Studiengebühren bezahlt werden müssen. Und auch die wackeln.“ Gerade diese Erfolge aber verhindern eine Mobilisierung. Es gibt, so sagt sie, auch nicht die großen Kürzungen, die dazu führten, dass Tausende riefen: „Jetzt langt’s!“ und auf die Straße gingen. Es sind unaufgeregte, nüchterne junge Leute, die versuchen sich klar zu werden über die Lage und die Wege, die uns aus deren Misslichkeiten hinaushelfen. Das war die möglicherweise langweilige, aber doch sehr schöne Botschaft des Abends.