Man kann ihnen nicht entkommen, diesen merkwürdig grün-roten (oder rot-grünen?) Plakaten, die überall in Berlin hängen, oder zumindest, überall in „meinem“ Berlin, in Nord-Neukölln, Kreuzberg etc.: „Es ist nicht zu spät“.
Jeden Tag, immer wieder radele ich an dieser Message vorbei, immer wieder habe ich die gleiche Reaktion: „Doch, es ist wahrscheinlich schon zu spät.“ Etwa ähnlich klingt es bei den Autobahnkleber:innen (ja, gegendert, deal with it) der Letzten Generation: Denn diese ist nicht, wie von vielen geglaubt, die „letzte Generation Menschen, die auf dieser Erde leben wird“, sondern die letzte Generation, die noch etwas dagegen machen kann, dass das Klima kollabiert und wir uns so mit Riesenschritten einer „unlebbaren Welt“ nähern. Auch von denen, und ihren Verbündeten Wissenschaftler:innen bei Scientist Rebellion, hören wir oft Dinge wie „1,5 Grad ist tot“ – mit anderen Worten: Es ist schon, zumindest ziemlich, zu spät.
Die Plakate vom „Volksentscheid Berlin 2030 klimaneutral“ aber sagen das Gegenteil: Es sei noch nicht zu spät, um Berlin bis 2030 klimaneutral zu machen.
Na super. Das freut mich, denn „Klimaneutralität“ ist bestimmt eine ganz tolle Sache, und wenn Berlin das bis 2030 schafft, umso besser. Nur … darf ich Ihnen ein Geheimnis verraten? Abgesehen davon, dass es extrem unwahrscheinlich ist, dass so ein Plan wirklich eingehalten würde (schließlich werden Klimaschutzpläne deutlich weniger streng eingehalten, als gute Neujahrsvorsätze), es ist tatsächlich so, dass es mit ziemlicher Sicherheit schon zu spät ist, den Kollaps des globalen Klimasystems verhindern; zu spät, um das Überschreiten der immer wieder erwähnten (und immer wieder missverstandenen) Kipppunkte zu verhindern. Kurz: Es ist zu spät, um uns zu retten. Sorry to burst your bubble.
Meistgelesene Artikel
„Wie bitte?“, fragen Sie Sich jetzt vielleicht: Ein Klimaaktivist sagt, es sei alles schon zu spät? Das macht keinen Sinn, das passt doch nicht ins Bild, das wir von „Aktivist:innen“ haben: Diese gendern doch ihre Substantive, sind entweder wütend, euphorisch oder agieren, wie die Letzte Generation, mit einer die Leute irgendwie kirre machenden moralischen Überlegenheit – aber defätistisch, deprimiert, apokalyptisch? Never, das ist doch die Rolle der Mehrheitsgesellschaft: „Ach, ist doch eh alles zu spät.“; „Aber die Chinesen!“; oder von den besser informierten: „Deutschland kann doch nichts ändern, wir stoßen doch nur 2 Prozent aller Treibhausgasemissionen aus.“ Die Rolle von uns Klimaaktivist:innen ist es, der Mehrheit ihre Untätigkeit vorzuhalten, sie anzutreiben, doch besser zu sein. Wütend oder übereuphorisiert: So kennt man „Aktivist:innen“.
Was mal wieder zeigt, so richtig ehrlich gehen wir nur selten damit um, was es eigentlich mit uns anstellt, mitten in der Realität der Klimakatastrophe zu leben. Noch schlimmer, wir Klimaaktivist:innen sind uns dieser Realität jeden Tag vollständig und dauerhaft bewusst, können sie nicht, wie der Großteil der Normal- oder auch Mehrheitsgesellschaft regelmäßig verdrängen oder gar leugnen. Man muss sich den Klimaaktivisten, man muss sich mich, also als einen verzweifelten Menschen vorstellen. Anders formuliert: Ich bin ziemlich sicher, dass ich seit ungefähr zwei Jahren tief in einer Klimadepression stecke.
Wir bewegen uns auf eine unlebbare Welt zu
Ich bin seit 2007 Klimaaktivist, habe 2008 das Klimacamp in Hamburg mitorganisiert, und gleichzeitig an der Hochschule Kassel einen einjährigen Kurs zur Klimakrise unterrichtet. Ich habe schon damals das reale Ausmaß der Bedrohung verstanden, oder zumindest die Tatsache, dass die Klimakrise nicht nur die Zukunft klaut, sondern in vielen Regionen der Welt dabei war, die Gegenwart zu zerstören. Ich hatte das Privileg, viel mit globalen Klimagerechtigkeitsbewegungen zu tun zu haben. Wer mit Menschen aus den Philippinen oder Bolivien zusammenarbeitet, dem muss schnell klar werden – das hier ist kein Zukunfts-, es ist ein Jetzt-Problem.
Trotzdem verging ein gutes Jahrzehnt, bis ich an den Punkt kam, an dem ich jetzt bin: Ich habe eingesehen, dass wir trotz vieler neuer Kampagnen wohl unfähig sein werden, den Klimakollaps noch abzuwenden. Ich glaube, diese Einsicht begann für mich im Frühjahr 2018, als es Ende April in ganz Berlin nach Waldbrand roch. Waldbrände in Nordeuropa im Frühling? Da wurde mir klar, dass die Eskalation der Klimakriseneffekte derartig schnell verlief, dass wir uns schon im Klimakollaps befinden mussten, dass der Makrokipppunkt des Klimasystems schon überschritten war; dass wir uns mit Riesenschritten auf eine unlebbare Welt zubewegten.
Ich hatte im Grunde mein gesamtes erwachsenes Leben der Anti-Kohle-Bewegung gewidmet, doch das wurde von Team Kohle in der „Kohlekommission“ politisch besiegt. Mein nächster Messias war Fridays for Future, doch die wurden durch eine Mischung aus Ignoranz, Umarmung und eigener Mutlosigkeit besiegt. Seitdem habe ich meinen Job verloren, nicht nur, aber auch, weil meine Klimaagitation der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung einfach zu laut und insistent wurde. Seitdem habe ich immer weniger, mittlerweile de facto fast gar keine, Beziehung mehr zu meiner „Blutsfamilie“, denn auch dort, in einer politisch mittigen Bürgers- und Großbürgersfamilie, wollte niemand mehr meine Klima-Rants und Angriffe auf den „Normalwahnsinn“ hören. Aber auch ich will die blasierte Ignoranz der Realität, die mir so offensichtlich ist, einfach nicht mehr aushalten.
Ich bin in eine politische Depression gestürzt, weil ich mich nicht mehr jeden Tag mit dieser lausigen Welt auseinandersetzen will, die nie mehr fundamental besser sein wird als am Tag vorher, sondern at best nur langsamer schlechter wird. Manchmal heule ich morgens und abends, wenn ich wieder lese, höre und sehe, wie schnell die Welt in den Abgrund rast.
Und trotzdem läuft jeden Tag das normale Leben weiter
Wenn ich dann doch Menschen treffe, ist eine meiner ersten Fragen meistens: „Was glaubst du, wie viele ‚gute‘ Jahre haben wir noch?“ Die Antworten variieren von „Denk ich nicht drüber nach“ über „fünf bis zehn“ oder „zehn bis 15 Jahre“. Der größte Cluster von Antworten liegt dabei in der Mitte, sprich, die meisten Menschen, die über das Problem nachdenken, glauben also, dass wir noch maximal „zehn gute Jahre“ haben werden. Und trotzdem läuft jeden Tag das normale, sprich, normalwahnsinnige Leben einfach weiter.
Es geht mir wie einem Soldat mit posttraumatischer Belastungsstörung, der nach einem Krieg nach Hause kommt, und nicht verstehen kann, wie die Menschen um ihn herum einfach so weitermachen, als würde nichts passieren. Kollabiert die Welt um sie herum denn nicht? Also schreibe ich Texte für meinen Newsletter, in denen ich diese Verzweiflung herausschreie; ich schreie auf Twitter herum; ich rede mit der Presse; ich versuche, Bücher zu schreiben und aktivistische Gruppen zu unterstützen; neuerdings gehe ich sogar wieder auf Demos und Aktionen. Die hatten mich eine Zeit lang zu sehr deprimiert.
Trotzdem wird die Welt jeden Tag ein Stück dunkler. Jeder vertrocknete Grashalm ist ein Menetekel, jeder Schweißtropfen, der mir schon morgens um halb neun über die Stirn läuft, eine Erinnerung an die Katastrophe, die nicht kommt, sondern schon da ist. Wenn ich mit meiner von Hollywood-Liebesmythen kolonisierten Vorstellungswelt an eine perfekte Beziehung denke, denke ich nicht mehr an einen gemeinsamen Lebensabend, sondern daran, jetzt noch aus den nächsten fünf bis zehn Jahren die maximale Lebensfreude herauszuziehen. Sollte man dann vielleicht einfach gemeinsam den Abgang machen? Why live to be 70 in a hellscape?
Klimakollaps und Klimadepression hinterlassen tiefe Schneisen in meinem Berufsleben, stellen meine ökonomische Stabilität infrage, verändern die Art und Weise, wie ich den Himmel, die Sonne, den Regen anschaue, und wer all dies nicht versteht, mit dem oder der kann ich nicht wirklich sinnvoll kommunizieren. Die Klimakatastrophe wird mein Leben nicht zerstören. In a very real sense, it already has. Die Kapazität, unbändige Freude und Hoffnung zu empfinden, die mein Leben seit mindestens zwei Jahrzehnten bestimmt hat, ist mittlerweile beinahe verschwunden.
Trotzdem fahre ich diese Woche nach Hamburg, um mit Ende Gelände zusammen gegen den normalwahnsinnigen Ausbau fossiler Infrastrukturen in einem Europa mitten im Klimanotstand zu kämpfen. Einerseits, weil, Klimakipppunkt(e) hin oder her, jedes verhinderte Zehntel Grad Erwärmung einen realen Unterschied im Leben realer Menschen macht. Andererseits, weil Klima-Aktivismus immer noch das beste Antiklimadepressivum ist. Und es mag schon zu spät sein – aber das heißt immer noch nicht, dass es okay wäre, einfach so weiterzumachen.