In der Sackgasse: Die kranke Diskussion über die Friedrichstraße
Am Montag wird der mittlere Abschnitt erneut für Autos gesperrt. Daran lässt sich einiges aussetzen – doch manche Kritiker haben jedes Maß verloren.

Wer in Berlin einen Termin im Bürgeramt, eine Geburtsurkunde oder eine Baugenehmigung benötigt, muss sich auf Wartezeiten einstellen. Mit der Lösung der Großprobleme dieser Stadt, etwa der Wohnungsnot, der Schulmisere und kaputten U-Bahntunneln, geht es fast gar nicht voran. Da überrascht es schon, mit welchem Tempo und welcher Energie, ja fast schon Liebe Verwaltung und Politik eine Angelegenheit angegangen sind, die gewiss nicht zu den drängenden Topthemen Berlins gehört. Am Montag wird der Mittelteil der Friedrichstraße autofrei. Die Aufregung ist groß.
In der Tat ist das Timing unglücklich. Nicht nur, dass sich die lange vorbereitete und angekündigte Aktion plötzlich in einer heißen Wahlkampfphase wiederfindet, in der kaum jemand Lust auf einigermaßen vernünftige Diskussionen hat. Der kalte, graue und dunkle Januar ist eine schlechte Zeit, um Wahlvolk einen neuen Fußgängerbereich schmackhaft zu machen. Derzeit fehlt den Menschen die Fantasie sich vorzustellen, wie schön es ist, auf der Friedrichstraße auf einer Bank zu chillen oder sich beschwingt in der Sonne zu küssen – wie es auf den Visualisierungen des Senats zu sehen ist.
Überhaupt: die Friedrichstraße. Schon als der knapp 600 Meter lange Teil der Straße, um den es geht, 2020 „Flaniermeile“ mit Radweg wurde, fragten sich Beobachter: Warum ausgerechnet er? Der Abschnitt mit seiner kalten Investorenarchitektur, dem 1990er-Businessambiente und den hochpreisigen, zum Teil leeren Läden hat für die allermeisten Berliner sowie Berlin-Touristen keine Bedeutung. Nach Büroschluss herrscht Totentanz, während sich nicht weit entfernt am Hackeschen Markt die Menschen drängen.
Hass und Häme
Dass ein Teil der Anrainer den Modellversuch „Flaniermeile“ als Zwangsbeglückung schmähte, war erwartbar. Es bleibt aber deren Geheimnis, warum sie ihr eigenes Geschäftsviertel so schlecht und als Katastrophengebiet bekanntmachten. Der Versuch der Neugestaltung war trotz der Baustellenästhetik mangels anderer Ideen unterm Strich das Beste, das dieser Straße seit langem passiert ist. Denn bei gutem Wetter schien so etwas wie Atmosphäre auf, und es war belebter als jemals zuvor.
Der nun wieder aufkochende Unmut zeigt, wie schwer die Verkehrswende umzusetzen ist. Während andere Metropolen weiter sind, wird in Berlin fast jedes Konzept, das Autos auch nur ein paar Quadratmeter wegnimmt, sofort mit Wut und Häme niedergemacht. Wer auch nur darüber nachdenkt, Straßenraum für etwas anderes zu nutzen als für Hast und Hetze oder als bloße Transitrenntrecke, muss sich auf denunziatorische Kritik einstellen. Was die automobile Lebensweise nicht eins zu eins fortschreibt, wird vor Gericht zitiert. Dabei gilt es immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass im traditionell untermotorisierten Berlin nur ein Teil, in Zentrumsgebieten sogar nur eine Minderheit der Bewohner dieser Lebensweise frönt.
Sicherlich kann man Politik und Verwaltung vorwerfen, dass sie an einer ungeeigneten Stelle ein weiteres unausgegorenes Konzept exekutieren, dass es bessere Orte für eine grundlegende Neugestaltung gäbe. Doch es ist leider auch so, dass die fast schon verbissenen hastigen Bemühungen eine verständliche Reaktion auf die ungute Art und Weise sind, mit der in diesem Land über die Mobilität diskutiert wird.