In einer Kemenate in Beeskow: Was macht eigentlich eine Burgschreiberin?
Von Berlin nach Brandenburg: Seit Januar ist Franziska Hauser Burgschreiberin von Beeskow. Für fünf lange Monate. Ist das fad? Oder macht das froh?

Als mir meine Freundin, die Schriftstellerin Franziska Hauser, im Herbst erzählte, dass sie ein Aufenthaltsstipendium als Burgschreiberin von Beeskow bekommen habe, gratulierte ich ihr natürlich. Aber ich fragte mich, wie sie das aushalten würde: fünf Monate – von Januar bis Mai – in einer unspektakulären ostdeutschen Kleinstadt zu leben, getrennt von Familie und Freunden. Wenn auch bei freier Unterkunft und mit 1000 Euro monatlich.
Wir telefonierten an einem dunklen und kalten Abend Anfang Januar, kurz nach ihrer Ankunft in ihrer Kemenate in der Beeskower Burg. Ja, sie sei jetzt ganz allein hier, sagte Franziska. Und nein, sie grusele sich nicht. Ich war froh, das zu hören. Dann sah ich mir die Fotos an, die sie mir kurz nach dem Telefonat geschickt hatte.
Wie hält sie das nur aus, fragte ich mich erneut. Ich bekam schon Depressionen allein bei der Vorstellung, ich müsste in dem schmalen Kiefernholzbett schlafen oder Tag für Tag allein an dem briefmarkengroßen Küchentisch zu Abend essen. Aber das stand sowieso nicht zur Debatte. Stadtschreiberstipendien mit Anwesenheitspflicht sind nur für Autorinnen geeignet, die die Kindererziehung noch vor oder – wie Franziska – so gut wie hinter sich haben.
Viele deutsche Städte leisten sich Stadtschreiber, trotz klammer Kassen. Derzeit kann man sich beispielsweise für Aufenthalte in Gelsenkirchen, Rottweil, Germersheim, Schwaz, Jena bewerben. Oder für ein paar Monate auf Schloss Wiepersdorf. Die gewünschte Aufenthaltsdauer schwankt zwischen zwei und zwölf Monaten, die Höhe der Zuwendung zwischen 1000 und 1500 Euro monatlich.
Seitdem die Jury sich für sie entschieden hatte, sehnte sich Franziska danach, endlich von Berlin nach Beeskow zu fahren und ihre Kemenate in Besitz zu nehmen. Sie zeigte mir ihren Terminkalender. Jeder einzelne Tag bis Ende Dezember hatte einen oder mehrere Einträge. Ab Januar war da nichts als schneeweiße Leere. Zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren würde sie, 1975 geboren, allein leben. Würde sie sich nur um sich kümmern müssen.

Jedoch, die bloße Anwesenheit der Stipendiaten genügt den Geldgebern selten. Es wird gewünscht, dass jene für Lesungen und Gespräche zur Verfügung stehen, sich in ihrem Schreiben auf den Ort und seine Geschichte beziehen, bei kulturellen Anlässen mitwirken und dergleichen mehr.
Schon bald mailte Franziska mir ihre Eindrücke aus Beeskow: „Ich werde herumgeführt wie eine Trophäe und muss überall dabei sein und alle begrüßen. Ich fühle mich, als ob ich der Stadt geschenkt wurde und allen zur freien Verfügung stünde. Die Direktorin des Gymnasiums will einen Schreibkurs für die Schüler, und alle Kursleiter auf der Burg, Theater- und Heimatschreiber, wollen, dass ich dazukomme. Gymnasiasten wollen mich für ihre Referate befragen, alle Lokalzeitungen, Lokalfernsehsender, Radiosender, Podcaster wollen immerzu Interviews, und eigene Veranstaltungen soll ich auch machen und dafür Ankündigungstexte schreiben, und lauter Leute haben doch ihre Scheune so hübsch ausgebaut und fragen, ob ich da nicht lesen könnte. Geld zahlen sie natürlich keins, woher denn.“
Wie hält sie das nur aus, fragte ich mich. Welch überflüssige Frage. Kein Zweifel, dass sie die Situation in den Griff bekommen wird.
In Franziskas letztem Roman „Keine von ihnen“, erschienen im April 2021, geht es um die Grafikerin Jette, die es schafft, mithilfe von Lügen und eines frisierten Lebenslaufs ein Aufenthaltsstipendium in einem verwunschenen Haus an einem Schweizer Seeufer zu ergattern. Und die sich inmitten der anderen Stipendiaten – „richtiger Künstler“ – als Hochstaplerin fühlt.
Aber Franziska ist natürlich anders als ihre Protagonistin Jette. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Franziska je an sich oder ihren Fähigkeiten zweifelte, sich oder ihre Entscheidungen infrage stellte. Ohne viel Aufhebens davon zu machen, tut sie intuitiv das, was sie für notwendig hält. Ruhig, aber unbeirrbar dreht sie sich zum Licht, wie eine Pflanze. Folgt ohne zu zögern dem Strom des Lebens. So kann sie, ohne abgelenkt zu werden, tun, was zu tun ist.

Vielleicht ist dies das Geheimnis ihrer erstaunlichen Produktivität: Seitdem sie um das Jahr 2008 herum, nach einem Bühnenbildstudium und dem Studium der Fotografie, mit dem Schreiben begann, hat sie vier Romane und ein Buch mit ihren Fotografien veröffentlichen können. Sie ist an Anthologien beteiligt und ihre Beiträge werden in Tageszeitungen und Magazinen gedruckt.
Darüber hinaus gibt sie Schreibkurse, bringt Sprachschülern Deutsch bei, tritt monatlich mit Kolleginnen in ihrer Lesebühne in Prenzlauer Berg auf und wird deutschlandweit zu Lesungen eingeladen. Trotzdem hat sie Zeit für ausgedehnte Spaziergänge mit mir, ist für ihre Familie und Freunde da und hat ihren Haushalt im Griff. Und nie wirkt es so, als würden ihre mannigfachen Beschäftigungen sie besonders anstrengen.
An einem neblig-trüben Februartag fahre ich nach Beeskow, um Franziska zu besuchen. Anderthalb Stunden inklusive einmaligem Umstieg dauert die Fahrt von Berlin in den Südosten, in das 80 Kilometer entfernte 8000-Einwohner- Nest. Gegen Mittag komme ich an. Franziska steht vor dem alten Bahnhofsgebäude aus roten Klinkersteinen; und wir freuen uns sehr über unser Wiedersehen.
Franziska zeigt mir Stadtwall, Marktplatz und Kirche. Macht mich auf die eklektische Villa des zwielichtigen Bauunternehmers mitsamt künstlichem See, Insel und antiker Frauenstatue aufmerksam.
Ich hatte mir vorgestellt, dass man die Burgschreiberin auf Schritt und Tritt um Autogramme bitten würde oder dass sie ständig Grüße erwidern müsste. Aber das Städtchen ist wie ausgestorben, uns begegnet einfach kein Mensch, der der Burgschreiberin huldigen könnte. Kein Beeskower nirgends, bis auf das Mädchen an der Kasse im Bioladen, wo Franziska ihren Salat bezahlt.
Dann sind wir da, stehen vor der aus roten Ziegeln erbauten Burg, die nicht wie eine Burg wirkt, eher wie drei zusammengepappte Scheunen im Karree. In einer befindet sich Franziskas Kemenate. Ich erkenne das Zimmerchen und die Küche von den Fotos wieder. Die zwei großen Fenster gehen auf den Burghof hinaus, die Küche zur anderen Seite, Richtung Straße. Wir sitzen dort, in der Küche, trinken Tee und essen Butterbrote. Franziska hat sich eingelebt.
Wenn sie morgens gegen halb neun erwacht, erzählt sie, steht sie nicht sofort auf, sondern bleibt eine Weile liegen und beobachtet die Wasservögel, die über der Spree hinterm Burgwall kreisen. „Das ist so kontemplativ. Die machen das den ganzen Tag. Wie Fische im Aquarium. Graureiher, Enten, Kormorane. In der Luft sind sie zusammen, aber wenn sie landen, sortieren sie sich wieder auseinander, jede Art bildet ihre eigene Gruppe.“ Ob das bei Menschen auch so sei, frage sie sich. Im Flug vereint, beim Landen getrennt?
Nach dem Aufstehen geht sie meistens joggen, am Spreearm entlang bis zum Sportplatz. Ich will noch mehr von Franziskas neuem Reich sehen, also gehen wir noch einmal raus. Franziska führt mich über die Wiesen, flussaufwärts die Spree entlang, bis zur Eisenbahnbrücke. Die zu überqueren, sei zwar nicht gerade legal, aber auch nicht gefährlich, erklärt sie mir. Und außerdem für etliche Kilometer die einzige Möglichkeit, um auf die andere Seite zu kommen.
Drüben folgen wir weiter der Spree, bis Franziska stehen bleibt. Gegenüber ragen malerisch die Schornsteine des Beeskower Spanplattenwerks in den Himmel, die Luft riecht angenehm nach Sägespänen. Die Spree ist an dieser Stelle etwas breiter, die Strömung geringer.
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Eisbaden gesund ist. Darum nutze ich die Gelegenheit, überwinde ich mich, ziehe mich aus und tauche – vor Kälte und Grusel schreiend – bis zum Hals ins eiskalte Wasser. Franziska findet auch, dass es sein muss, und macht mit.
Erfrischt machen wir uns auf den Rückweg durch den Kiefernwald. „Es muss schön sein, so nah an der Natur zu leben, aber klappt das hier mit dem Schreiben?“, frage ich Franziska. Braucht man dafür nicht den Stress als Antrieb? Bekommt man etwas zustande, wenn man den ganzen Tag mit Spaziergängen und Vogelbeobachtung verbracht hat? Sie antwortet, dass die Ruhe ihr guttut. Diese permanente Reizüberflutung in Berlin bekomme sie manchmal nicht mehr gefiltert.

„Wenn ich in der Stadt einen Stolperstein sehe, dann sehe ich sofort, wie die Familie aus dem Haus getrieben wird. Bei allem sehe ich immer sofort die Geschichte dahinter. Wenn auf dem Sportplatz, wo ich morgens jogge, die Kappe von einem Kugelschreiber liegt, dann sehe ich sofort, wie irgendein Sportlehrer jemandem High five gibt und er dabei mit so einer Falte vom Ärmel die Kappe vom Kugelschreiber, der in der Brusttasche steckt, zu Boden fegt. Wenn drei Taschentücher auf dem Waldweg liegen, dann sehe ich sofort eine, die nur eins rausziehen wollte. Aber drei fallen runter und sie denkt sich: Och, die sind jetzt nass, die lass ich liegen. Und diese ganzen Geschichten, die ich überall sehe, die sind ja in der Stadt noch viel überfordernder als hier.“
Ein überaktives Gehirn, welches einen permanent unaufgefordert mit Filmschnipseln bombardiert – das Problem kenne ich. Wie hält Franziska das aus? „Das frag ich mich auch. Ich glaube, deswegen muss ich permanent etwas posten oder schreiben, um alles irgendwie zu verarbeiten. Und manchmal ist der Speicher trotzdem zu voll, und ich weiß nicht, wie ich das abstellen soll.“
Mit ihrem Roman kommt sie hier gut voran. Sie schreibt ihn abends weiter. Wenn alle weg sind und sie allein in der Burg ist. Wenn die Museumsangestellten und die Bauarbeiter, die derzeit den Burghof sanieren, Feierabend haben. Wenn die Bagger still stehen und das Burgtor über Nacht verschlossen wurde.
In dem Roman geht es um ein Mädchen, das in der Parallelwelt einer Kommune aufwächst und sich daher als junge Frau nicht in der Großstadt, dem Berlin der 90er-Jahre, zurechtfindet. Weil nichts von dem, was sie in der Kindheit für normal hielt, normal ist.
Nachts ist der Burghof in Beeskow malerisch beleuchtet
Franziska erzählt, sie arbeite bis sich um halb eins der Scheinwerfer ausschaltet. Der Scheinwerfer, der den Burghof des Nachts malerisch beleuchtet, falls mal ein Fremder vorbeifährt. Der Scheinwerfer, dessen Licht so grell auf ihr Bett strahlt, dass es zu hell zum Schlafen ist. So lebt sie, so arbeitet sie, so kommt sie klar, so hält sie es hier aus. Sie arbeitet mit den Umständen, nicht gegen sie.
Wenn sie nicht zum Schreiben kommt, weil sie mit dem Auto beispielsweise in eines der Nachbardörfer gebracht wird, um dort vor den Mitgliedern von Skatklubs oder Kaninchenzüchtervereinen zu lesen, klappt es hinterher wegen ihres Ärgers noch besser. Dann kann es sein, dass sie bis zum Morgengrauen am Rechner sitzt.
Auf dem Rückweg nach Berlin freue ich mich für Franziska. So richtig verstehe ich immer noch nicht, wie sie es in Beeskow aushält, aber jetzt weiß ich, dass es ihr dabei gut geht.