In Extremo: Mittelaltermetal bis zur Vollendung

Stolzenhagen - Ganz am Anfang, als sie gerade erst dabei waren, zusammenzuwachsen, eine Einheit zu werden, da fragte der Dudelsackspieler den Bassisten: Sag mal, wie lange hält so eine Rockband eigentlich? Vielleicht, antwortete der Bassist, zehn Jahre. Wenn es richtig gut läuft.

An dieses Gespräch erinnern sich Kay Lutter, der E-Bassist, und Marco Zorzytzky, der Dudelsackspieler, heute noch. Es sind seither ziemlich genau zwanzig Jahre vergangen. Und die Band, in der sie damals gerade angefangen hatten, zusammen zu spielen, gibt es noch immer. Irgendetwas muss also verdammt gut gelaufen sein.

In Extremo sind heute eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Rockbands. Wenn es um Mittelaltermetal geht, also das Genre, das sie miterfundenen haben, dann sind sie gar die erfolgreichste überhaupt. Und vielleicht liegt das gerade daran, dass In Extremo als ein Experiment gestartet ist, dessen Ausgang völlig ungewiss war. Anfang der Neunziger war das, kurz nach der Wende in Prenzlauer Berg. Bei solchen Experimenten geht es am Ende immer darum: Scheitern oder Erfolg. Dazwischen gibt es nichts.

Wobei: Was ist eigentlich Erfolg? Die Antwort geben drei der derzeit sieben Bandmitglieder an einem wuchtigen Küchentisch in Stolzenhagen, kurz hinter Wandlitz (Barnim). Nach und nach sind sie alle weggezogen aus dem Szene-Berlin: Kay Lutter nach Buch, an die letzte Straße vor der Stadtgrenze, Marco Zorzytzky bereits vor fünfzehn Jahren hierher nach Brandenburg. Seit 2008 ist Boris Pfeiffer, der ebenfalls Dudelsack spielt, sein Nachbar.

Vor der Tür Kopfsteinpflaster, die Dorfkirche auf der anderen Straßenseite. Drinnen, in Boris Pfeiffers Wohnküche, bollert der Kachelofen, auf dem Tisch heiße Maroni, Tee und Kaffee dampfen. „Es ging alles Stück für Stück“, sagt Kay Lutter und streichelt die Katze auf dem Schoß.

So gesehen war der erste Erfolg der Band der erste Song, den sie gemeinsam hinbekamen. Ein Jahr lang hat das gedauert. Nach den ersten Stunden im Proberaum 1994 hatten sie irgendwann abgebrochen: Das lassen wir lieber mal. Die einen kamen aus der Mittelalterszene. Marco Zorzytzky trat auf Märkten mit kleinen Akrobatiknummern auf, Boris Pfeiffer hatte einen Zimmermannsstand, half beim Aufbau der Stände auf dem Potsdamer Platz, im Lustgarten, an der Domäne Dahlem. „Das war wie ein Abenteuerspielplatz“, sagt Pfeiffer. Für Tage, manchmal ein paar Wochen, spielte es keine Rolle mehr, wer was im wirklichen Leben machte, auf den Festen konnte jeder Ritter oder Hexe sein, eintauchen in eine Zeit, die so lange zurücklag, dass ihre Sagen und Märchen so unverbraucht wie unverdächtig waren. „Die Musik hat mich von Anfang an fasziniert“, sagt Pfeiffer.

Der Feind kam abhanden

Kay Lutter hatte mit all dem nichts zu tun. Er hatte in der DDR bei der Band Freygang gespielt, hatte dort erfahren, wie schnell man verhaftet werden kann, wenn man sich dagegen wehrte, jedes Mal angehalten zu werden, wenn man mit seinem Gitarrenkoffer an der Weltzeituhr vorbei ging. Nach der Wende machte er mit der Band noch ein bisschen weiter, bis er merkte, dass ihnen der Feind abhanden gekommen war und sie die neue Freiheit gar nicht nutzten.

Kay Lutter und die anderen lernten sich über Michael Rhein kennen, der schließlich Frontmann der Band wurde. In Extremo – Lateinisch für „Bis zur Vollendung“. Elektrische Gitarren und Bass, Schlagzeug und dazu Dudelsäcke, Drehleiern, Flöten und was das mittelalterliche Instrumentensortiment so hergab. „Wir haben vor nichts Respekt gehabt“, sagt Boris Pfeiffer.

Wie die Menschen im Mittelalter, so sieht er das, weil die auch nur versuchen konnten, etwas nachzuahmen, meistens aber so lange herumprobierten, bis ihnen selbst etwas einfiel. Also bauten sie die Dudelsäcke selbst, aus abmontierten Treppengeländern, abgesägten Stuhlbeinen, bis sie laut und knarzend genug waren, um mit den Verstärkern mitzuhalten. Ihr erster Song war die Coverversion eines Bluessongs, Huddie Ledbetters „Gallows Pole“, ein Lied über einen Mann, dem der Galgen droht.

Der Galgen wurde ihr Markenzeichen, stand bei ihren Auftritten auf der Bühne, während Marco Zorzytzyk Feuer spie, Kay Lutter in eine Rüstung schlüpfte. Sie wollten immer unterhalten. Auch das haben sie aus der Mittelalterszene mitgenommen, wo man aufgeschmissen ist, wenn niemand stehen bleibt und eine Münze in den Hut wirft.

Irgendwie kam das alles an. Bei den Mittelalterfans, bei den Gothic-Leuten, bei den Metalheads. Und irgendwann auch bei all jenen, denen der erdige Sound, das Skurrile gefiel.

Sechsmal waren sie für den Echo nominiert. Und haben ihn doch nicht bekommen. Sie sind bei Stefan Raab aufgetreten – eine der wenigen Gelegenheiten, die es für Bands heute noch gibt, sich im Fernsehen zu präsentieren –, haben seinen Bundesvision Song Contest mitgemacht. Und nicht gewonnen. An den Eurovision Song Contest haben sie sich nie herangetraut. Obwohl: Solch eine Schlagzeile, wie sie Knorkator dafür einheimste („Wer hat diese Irren auf die Bühne gelassen?“), das wäre schon was gewesen, sagt Kay Lutter.

Dann das erste Mal Wacken – das heute größte Metalfestival der Welt. Das erste Mal zum legendären Roskilde-Festival in Dänemark. Große Bühnen. Chartplatzierungen.

Nicht im Radio

In dem kleinen Musikzimmer, das sich Boris Pfeiffer oben in seinem Haus bei Wandlitz eingerichtet hat, hängen all die Goldenen Schallplatten an der Wand, die sie bekommen haben. In den vergangenen zehn Jahren kletterte jedes ihrer Alben mindestens auf Platz 3 der Charts, zwei schafften es sogar auf Platz 1. Trotzdem: Ihre Songs laufen so gut wie nie im Radio – wegen der Dudelsäcke.

Aber auch wenn sie die mal weggelassen haben, klappte es nicht. Irgendwann entschieden sie, sich nicht mehr zu verbiegen. Dass man ihnen das abnimmt, liegt auch an diesem Küchentisch, der so heimelig und unaufgeregt ist. Viele ihrer Ideen entstehen hier. Sie treffen sich im Wechsel bei einem von ihnen zu Hause. Einen Proberaum brauchen sie nur noch hin und wieder. Jeder hat sein eigenes kleines Heimstudio, neue Texte und Melodien sind schnell in die Cloud hochgeladen und so mit allen geteilt.

„Wir machen ehrliche Musik“, sagt Marco Zorzytzky, „für uns, für die Fans.“ Vielleicht ist das der größte Erfolg von In Extremo.

Mehr Infos unter www.inextremo.de