In meiner Heimatstadt in Estland werden überall Sirenen installiert

Unsere Gastautorin kommt aus Tartu und arbeitet für einige Wochen bei der Berliner Zeitung. An ihrem ersten Tag in Berlin ging sie verloren: im BER.

Der Rathausplatz in Tartu
Der Rathausplatz in Tartuimago/UIG

Meine ersten 40 Minuten in Berlin waren stickig, eng und begleitet vom Geschrei zweier Babys. Wir waren gerade mit dem Flugzeug gelandet, aussteigen durften wir aber noch nicht. „Wegen des Personalmangels am Flughafen“, wie die Flugbegleiterin sagte. Ich war bereit für die Metropole, bereit meinen ersten längeren Aufenthalt in dieser trendigen, geschichtsträchtigen Stadt zu verbringen. Und jetzt musste ich erst mal warten.

Es ist mir schließlich doch noch gelungen, dem Chaos zu entfliehen. Nachdem ich erst eine Zeit lang in die falsche Richtung gelaufen war, fand ich irgendwann den Ausgang aus diesem verwirrenden Labyrinth namens BER. Schon dieser Flughafen ist ganz anders als der von Tartu, meiner Heimatstadt. Dort hat der Flughafen nur einen Warteraum und es fliegen ungefähr fünf Flüge pro Woche ab, alle mit demselben Ziel: Helsinki.

Wo überhaupt liegt Tartu? Das werde ich oft gefragt, seitdem ich in Deutschland bin. Ich antworte meist mit der Frage: Kennen Sie Estland? Nein, nicht Island, sondern das kleine baltische Land zwischen Finnland und Lettland. Die Hauptstadt von Estland heißt Tallinn. Die zweitgrößte Stadt ist Tartu, eine Universitätsstadt wie Göttingen oder Jena. Tartu hat 95.000 Einwohner, ich bin eine von ihnen.

Reporterin Ode Punamäe in Tartu
Reporterin Ode Punamäe in TartuEstonian Public Broadcast

Trotz des Größenunterschieds ist Berlin eigentlich gar nicht so anders als Tartu. Die Menschen dort lieben auch Kunst, Theater, Radfahren und Bier. Nur am Rande: Einmal im Jahr trinkt der Bürgermeister von Tartu zusammen mit den Bürgern Bier, zur Walpurgisnacht. In dieser Nacht gibt der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin die Macht an die Studenten ab. Wenn Sie kommen wollen, am besten im Jahr 2024, dann ist Tartu Kulturhauptstadt Europas.

Eine der ersten Überraschungen in Berlin erlebte ich in der U-Bahn: Alle trugen eine Maske – und ich hatte keine. Ich schämte mich. In Estland trägt niemand mehr einen Mund-Nasen-Schutz. Ich glaube, weil die meisten Corona vergessen haben. Es ist zwar nicht so, dass die Zahl der Infizierten nicht auch bei uns steigt, das tut sie. Aber uns Esten beschäftigen gerade ganz andere Sorgen.

Da ist einerseits der Krieg, der nicht weit weg von uns wütet. 45.000 ukrainische Flüchtlinge wollen sich gerade in unserem kleinen, 1,4 Millionen Einwohner umfassenden Land niederlassen. Da sind Inflation und Gaspreise, über die wir genauso diskutieren wie viele Berliner. Aber auch über Deutschland wird seit dem Krieg viel diskutiert. Tun die Deutschen genug, um den Ukrainern zu helfen, oder lassen sie die Füße baumeln? Das fragen sich hier viele.

In der letzten Reportage, die ich in Tartu schrieb, ging es um die Frage, welche Keller als Schutzräume geeignet sind. Viele unterirdische Gänge und Schulkeller werden jetzt als Bunker gekennzeichnet. Es werden Sirenen installiert, damit die Menschen wissen, wann sie sich in Sicherheit bringen müssen. Überall in Estland sollen diese Systeme eingerichtet werden. Mein Eindruck ist, dass diese Diskussion in Deutschland gerade erst begonnen hat. Ich lerne von Berlin sehr viel. Vielleicht kann man in diesem Punkt auch etwas von Tartu lernen.