Berliner Sekretärin mit 2568 Euro netto: „Ich dusche nur einmal die Woche“
Jana M. lebte lange von Hartz IV, heute verdient die Alleinerziehende 3800 Euro brutto. Die Berliner und die Inflation – Teil 4 unserer neuen Serie.

Vor Jana M. liegt ein Ringbuch, außen ist es schwarz-weiß kariert mit ein paar Verzierungen. Es wirkt abgenutzt, die Seiten wellen sich. Die Berlinerin schlägt es auf. „Ich führe seit Jahren akribisch Haushaltsbuch, liste alle meine Ausgaben auf“, sagt sie. Anders hätte sie in den vergangenen Jahren wohl den Überblick verloren. Vor allem in der Zeit, in der sie von Hartz IV lebte. „Damals musste ich jeden Cent umdrehen. Aber auch heute achte ich darauf, was ich ausgebe.“
Wir treffen Jana M., 43 Jahre alt, marineblaues Etuikleid, marineblaue Ballerinas, bei einem Vietnamesen in Prenzlauer Berg. Sie isst dort ab und an zu Mittag. Heute bestellt sie zwei Sommerrollen für sechs Euro. „Die sind lecker, aber das läppert sich. Dann nimmste noch einen Kaffee und schon sind 10 Euro weg“, sagt sie.
Jana M. ist Vorstandsassistentin in einem internationalen Unternehmen. Ihr täglicher Job ist es, der Geschäftsführung zuzuarbeiten, Meetings und Termine zu organisieren, Korrespondenzen zu führen, E-Mails zu beantworten und Projekte mitzuentwickeln. Sie hat eine 35-Stunden-Woche und verdient 3800 Euro brutto. „Ich kann mich nicht beklagen“, sagt sie. Erst recht nicht, wenn sie zurückblicke. „Es gab auch ganz andere Jahre.“
Die Berlinerin ist 1979 in Friedrichshain geboren worden. „Dort bin ich aufgewachsen. Als ich 13 war, sind wir nach Lichtenberg gezogen.“ Viele Erinnerungen an die DDR habe sie nicht mehr. „Ab der ersten Klasse war ich Jungpionierin, und wir haben Altstoffe gesammelt, es gab mehrere Höfe, wo du Papier oder Glas hinbringen konntest und ein paar Pfennige dafür bekommen hast. Das war komischerweise zu Ostzeiten schon aktuell. Allerdings gab es in der DDR auch viel Umweltverschmutzung.“
Wir treffen Angestellte, Rentner, Gastronomen und viele mehr, die uns offen darlegen, wie viel sie verdienen und was davon jetzt und künftig noch übrig bleibt. Alle, die uns einen Blick in die Haushaltskasse erlauben, bleiben auf Wunsch anonym.
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Ihre Eltern hätten sich damals nicht wohlgefühlt. „Sie wollten immer rüber.“ Einmal blieb ihr Vater einfach im Westen, kehrte allerdings dann doch wieder zurück. „Das war auch besser so, meine Mutter ist damals ziemlich unter Druck gesetzt worden.“ Als sie Jahre später einen Ausreiseantrag stellte, habe man ihr im Amt damit gedroht, ihr die Kinder wegzunehmen.
Nach dem Mauerfall 1989 musste sich die Familie erst mal zurechtfinden, sagt Jana M. „Vor allem meine Mama war ein wenig eine Wendeverliererin.“ In der DDR arbeitete sie als ungelernte Arbeitskraft in Laboren oder Küchen. Nach der Wende hatte sie keine Ausbildungspapiere, die sie hätte vorzeigen können. „Es wurde für sie zu einem Spießrutenlauf, einen Job zu finden“, sagt Jana M. nachdenklich.
Ihr Vater hingegen habe sich selbstständig gemacht mit einem kleinen Laden in Lichtenberg. „Anfangs lief es sehr gut, leider musste er das Geschäft nachher aufgeben. Es gab zu viele Auflagen.“
Lichtenbergerin Jana M. lernte nach der Wende Schreinerin
Für sie selbst änderte sich einiges. Nach der Wende besuchte sie die Realschule, wenn sie nicht bei ihrem Vater im Laden stand. „Danach wollte ich keine Verkäuferin mehr werden.“ Mir der Mittleren Reife suchte sie sich einen Ausbildungsplatz. „Ich hatte erst gar keinen Plan.“ Sie machte ein soziales Jahr.
Im Jahr 1997 ließ sie sich im Jobcenter beraten. Sie entschied sich für eine Ausbildung zur Schreinerin. „Die habe ich gemacht und bin danach erst einmal nach Mallorca gegangen. Dort bin ich dreieinhalb Jahre geblieben.“ Damals war sie 21, mit 24 wurde sie schwanger. „Ich bin dann nach Deutschland zurückgekehrt, meine Tochter ist hier geboren.“ Nach einem Jahr in Elternzeit suchte die Berlinerin einen neuen Job, vom Vater ihres Kindes hatte sie sich mittlerweile getrennt.
Kassensturz: Jana M. bezog jahrelang 358 Euro ALG2
„Es waren keine einfachen Jahre“, sagt sie. „Glücklicherweise kam eine Bekannte auf die Idee, dass ich doch eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin machen solle. Das war genau richtig. Ich sprach inzwischen ja perfekt Spanisch. Englisch passte auch.“
Das war 2007, ihre Tochter ging mittlerweile in den Kindergarten und Jana M. drückte tagsüber bis 2009 wieder die Schulbank. Danach schloss sie eine Zusatzausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin an. „In dieser Zeit habe ich von Bafög gelebt – und musste mit Hartz IV aufstocken. Darüber war ich nicht glücklich, aber es ging nicht anders“, sagt sie.
Sie schaut in ihr „schlaues Buch“, wie sie es nennt: Damals hatte sie in ihrer Ausbildungszeit 568 Euro Bafög zur Verfügung, 358 Euro ALG2-Zuschuss sowie 117 Euro Unterhaltsvorschuss. Hinzu kamen damals 164 Euro Kindergeld im Monat. Die Miete belief sich auf 348 Euro. „Ich musste schon sehr auf meine Ausgaben schauen, hinzu kamen noch 78 Euro für Gas und 50 Euro für Strom.“ Für den Kitaplatz für ihre Tochter zahlte sie 45 Euro im Monat.
Kassensturz: Die Berlinerin zahlt 542 Euro Miete für 65 Quadratmeter
Jana M. wohnt heute noch in der 65-Quadratmeter-Wohnung, die inzwischen 542 Euro Miete im Monat kostet. „Ich wohne schon so lange hier, dass ich jetzt bestimmt nicht ausziehe. Andere Wohnungen sind mir viel zu teuer.“ Damit für sie im kommenden Jahr die Nachzahlungen „hoffentlich moderat ausfallen“, erhöhte sie bei der Gasag gerade ihre Abschlagzahlung auf 77 Euro monatlich, für Strom zahlt sie 38 Euro.
Sie bestellt sich noch einen Kaffee und sagt: „Ich habe viele Höhen und Tiefen hinter mir, mein Kind alleine erzogen, die Berufe gewechselt, und bin heute glücklicherweise ganz gut verdienend.“ Seit 2013 arbeitet sie in dem internationalen Unternehmen. „Ich habe mit 30 Stunden angefangen, weil ich das mit meiner Tochter sonst nicht geregelt bekommen hätte“, erzählt sie. Damals erhielt sie ein Gehalt von 1800 Euro brutto. „Netto waren das 1300 Euro, hinzu kamen 150 Euro Unterhalt von dem Vater meiner Tochter sowie Kindergeld.“
Das Meiste gebe ich für Lebensmittel aus. Das sind im Monat manchmal bis zu 500 Euro.
Ihr Verdienst steigerte sich. Heute verdient Jana M. 3800 brutto für 35 Stunden in der Woche, das sind 2568 Euro netto. Hinzu kommt das Kindergeld, inzwischen auf 219 Euro im Monat erhöht. In diesem Monat hat sie vom Staat aus dem Entlastungspaket 100 Euro zusätzlich erhalten, wie alle anderen Familien in dieser Zeit der Krise auch. „Hartz-IV-Empfänger haben 200 Euro bekommen, das ist gut so, wird denen aber angesichts der steigenden Preise nicht viel helfen.“
Sie zuckt mit den Schultern, schlägt erneut ihr Haushaltsbuch auf. „Meine Ausgaben liegen derzeit noch im grünen Bereich. Das Meiste gebe ich für Lebensmittel aus. Das sind im Monat manchmal bis zu 500 Euro“, berichtet sie. „Ich versuche, sehr bewusst zu leben. Es gibt bei uns viel Gemüse und Obst, alles am besten bio. Fleisch dagegen eher selten, aber das war in meiner Kindheit auch nicht anders.“ Ansonsten leiste sie sich zwei Streaming-Kanäle sowie Lose bei Gewinnspielen, unter anderem bei Aktion Mensch und der Postlotterie. „Für die Lose gebe ich monatlich 46 Euro aus.“
Ihre Tochter ist inzwischen 16, das BVG-Ticket für sie kostet derzeit 9 Euro, in Zukunft 64 Euro. Ihr Kind bekommt alle zwei Wochen 30 Euro Taschengeld, 50 Euro gehen monatlich auf ein Sparkonto. „Und alle drei Monate gehen wir shoppen, das kostet dann im Schnitt 150 Euro.“
Jana M. trägt außerdem einen Kredit von monatlich 700 Euro ab. „Den habe ich noch aus meiner Zeit als Alleinerziehende, als ich nicht so gut verdient habe.“ Und 100 Euro versucht sie monatlich zu sparen. „Das gelingt mir nicht immer, aber wenn, bin ich zufrieden.“
Mir geht es über die Hutschnur, wenn Politiker oder sogenannte Experten nur noch davon reden, wie schlimm alles noch wird.
Sie lehnt sich zurück, fährt sich durch die hochgesteckten braunen Haare. „Ich habe eigentlich keine Angst, wieder mit Nichts dazustehen. Und die Krise werde ich schon irgendwie schultern. Mir geht es aber über die Hutschnur, wenn Politiker oder sogenannte Experten nur noch davon reden, wie schlimm alles noch wird, und von den Bürgern und Bürgerinnen verlangen, kürzerzutreten“, sagt sie. Diese Verzichtsappelle ärgern und verunsichern sie zugleich. „Dann kriege ich Muffe, obwohl ich derzeit keine haben müsste. Ich bin auch niemand, der Geld zum Fenster rauswirft. Trotzdem machen diese Ankündigungen, dass alles teurer wird, was mit dir.“
Es ist eine „gefühlte Angst“, Jana M. steht damit nicht allein da – fast die Hälfte der Deutschen sind derzeit in Sorge, durch die Inflation Geld zu verlieren, ergab jüngst eine Studie, die die Allianz-Bank in Auftrag gegeben hatte. Demnach befürchten 89 Prozent der Befragten einen Anstieg der Lebenshaltungskosten. Auch hat jeder dritte Deutsche das Vertrauen in den Euro verloren. Viele Menschen sind sich zudem unsicher, welche Geldanlage derzeit die beste ist.
„Ich versuche derzeit, die Krise als Chance zu sehen“, sagt Jana M. Das bedeute für sie unter anderem, nicht mehr so viele Lebensmittel zu verschwenden. Weniger einzukaufen, um nachher nicht vieles wieder in die Tonne schmeißen zu müssen. „Mich nervt diese Wegwerfgesellschaft seit Jahren, aber jetzt ist es an der Zeit“, sagt sie. Auch auf dem Plan: mehr zu Hause vorkochen und die Mahlzeiten dann mitnehmen ins Büro.
Auch bei Kleidung achte sie auf Nachhaltigkeit. „Meiner Tochter kann ich das nicht ausreden, sie ist ein Teenager, aber ich schaue genau, wo etwas produziert worden ist, ehe ich es mir kaufe. Wenn überhaupt, ich halte mich in dem Bereich kurz.“ Was sie ihrem Kind allerdings verbietet: Billigklamotten im Internet kaufen. „Da kommt vieles aus China, und ein Oberteil kostet gerade fünf Euro. Das riecht doch nach Ausbeutung. Außerdem wartet man fünf Monate auf das Paket.“
Sie zuckt mit den Schultern, fährt fort: „Ich mache mir allerdings auch Gedanken darüber, ob meine Tochter und ich Ende des Jahres noch dreimal im Monat ins Kino gehen können. Das ist auch Luxus inzwischen. Oder ob ich mir spontan ein Paar Schuhe kaufe.“
Jana M.: „Ich vermisse eine Vorbildfunktion der Politiker“
Jetzt schon spare sie beim Verbrauch von Wasser und Strom. „Ich habe nichts dagegen, mich einzuschränken. Ich dusche nur einmal die Woche, ansonsten wasche ich mich kalt ab“, sagt sie. Und auch hier nerve es sie, wenn von oben, also von der Politik, unentwegt Vorgaben kämen, was der Otto Normalverbraucher zu tun habe. Gerade erst hieß es, dass im Fall eines Gasnotstands die EU-Staaten nach dem Willen der Europäischen Kommission zum Gassparen gezwungen werden können. Das sei ja schön, sagt Jana M. sarkastisch und verzieht den Mund. Das treffe zuerst wohl Unternehmen, aber dennoch. „Vorgaben über Vorgaben“, sagt sie.
Sie vermisse ein sinnvolles Engagement der Politik. „Es ist doch ungeheuerlich, dass große Sparprogramme für alle Bürgerinnen und Bürger ausgerufen werden, aber die Schuldenbremse eingehalten werden soll. Das geht doch auf Kosten der Ärmeren, die bald wirklich nichts mehr zahlen können.“ Auch frage sie sich, warum in diesen Zeiten nicht die Mehrwertsteuer bei bestimmten Lebensmitteln von sieben auf null Prozent gesenkt werde. „Das macht Obst und Gemüse doch billiger. Und gerade die hohen Lebensmittelpreise schlagen derzeit bei vielen ins Kontor, vor ein paar Monaten haben sie für einen Einkauf noch 50 Euro bezahlt, heute sind es 100.“
Früher gab es für uns immer Jugendclubs, nach 1994 sind fast alle in Lichtenberg verschwunden. Deutschland ist eines der kinderfeindlichsten Länder.
Der Staat spare an den falschen Ecken, sagt Jana M. „Sei es bei der Bildung oder im Gesundheitssektor.“ Und ergänzt wütend: „Früher gab es – nur ein Beispiel – für uns immer Jugendclubs, nach 1994 sind fast alle in Lichtenberg verschwunden. Deutschland ist eines der kinderfeindlichsten Länder.“ Dabei seien Kinder die Zukunft.
Die Regierung, findet Jana M., solle diese Krise als Chance sehen und neue Prioritäten setzen. „Es gibt eine große Schere zwischen Arm und Reich, gut und schlecht verdienend. Das sollte mehr ins Augenmerk rücken.“ Und nicht nur, wenn es ans Sparen geht.
Jana M. packt ihr Ringbuch wieder ein. „Je mehr ich darüber rede, desto deutlicher wird mir, dass ich eine Vorbildfunktion der Politiker vermisse. Gerade jetzt.“ Sie bezahlt ihre Rechnung. Es sind elf Euro, inklusive Trinkgeld. „Auswärts essen werde ich mir in Zukunft immer öfter sparen“, sagt sie und geht zurück ins Büro.
Alle Namen sind verändert, der Redaktion aber bekannt.