Ingo Müller und Peter Mayenknecht aus der Karl-Marx-Allee
Berlin - Vor ein paar Monaten haben Ingo Müller und Peter Mayenknecht einander kennengelernt. Müller, 63, Invalidenrentner, geboren in Brandenburg, Mieter in der Karl-Marx-Allee, bekam von seinem Vermieter den Bescheid, seine Wohnung werde verkauft. Er hatte Angst, mit seiner Frau an den Stadtrand verdrängt zu werden.
Peter Mayenknecht, 75, geboren in Stuttgart, Immobilienmakler, las den Artikel darüber in der Berliner Zeitung und erinnerte sich daran, dass beim Verkauf der Stalinbauten im Jahr 1993 eine Regelung in den Kaufvertrag aufgenommen wurde, die Altmietern wie Müllers garantiert, hier bis an ihr Lebensende bleiben zu dürfen.
Gemeinsam machten sich Müller und Mayenknecht auf die Suche nach der Klausel, kämpften gegen Berliner Bürokratie, Investoren und gegen das Vergessen. Sie sind keine Freunde geworden, aber ab und zu treffen Sie sich noch. Das Gespräch über ihr Leben mit und ohne die Berliner Mauer fand bei Müllers in der Karl-Marx-Allee statt.
Die Mauer ist jetzt genauso lange weg wie sie stand. War Ihnen das bewusst?
PETER MAYENKNECHT: Nein, ich habe davon aus der Berliner Zeitung erfahren. Ich rechne doch nicht aus, wie lange ich ohne Mauer lebe.
INGO MÜLLER: Klar, für Sie hat sich ja auch nichts geändert.
MAYENKNECHT: Doch, für mich hat sich was geändert.
MÜLLER: Zum Positiven?
MAYENKNECHT: Ja, klar. Ich habe seit 1962 in West-Berlin gelebt, da war man ja auch eingesperrt in gewisser Weise.
Welche Zeit kommt Ihnen länger vor? Die Zeit davor oder danach?
MAYENKNECHT: Das kann ich schwer sagen, ich hatte im ersten Teil meines Lebens eine andere Wahrnehmung.
MÜLLER: Geht mir auch so. Bei mir kommt das Alter hinzu. Ich war sieben, als die Mauer gebaut wurde.
Erinnern Sie sich daran?
MÜLLER: Gar nicht.
MAYENKNECHT: Ich auch nicht.
Wirklich nicht? Sie waren doch schon viel älter.
MAYENKNECHT: Ja, 18. Es war aber kein Thema für mich, ich habe in Stuttgart gelebt, gerade Abi gemacht, wir waren weit weg, hatten auch keine Ostverwandtschaft.
Wann ist es Ihnen bewusst geworden?
MÜLLER: Mir, als meine Mitschüler, Bauernkinder aus Brandenburg, nicht mehr mit ihren Schinken und Eiern nach Berlin gefahren sind, um das zu tauschen oder zu verkaufen. Da hieß es dann plötzlich: Jetzt geht es uns genauso dreckig wie euch Flüchtlingskindern.
MAYENKNECHT: Wir haben einen Abiturausflug nach Berlin gemacht und da waren wir auch in Ostberlin. Das war schrecklich.
Was war denn schrecklich?
MAYENKNECHT: Es waren keine Menschen auf der Straße, es war so ein Wetter wie heute. Alles war grau. Dann wollten sie mich nicht in die Oper lassen, weil ich keinen Schlips anhatte.
MÜLLER: Ohne Anzug biste nirgendwo reingekommen. Das war bis Ende der 70er-Jahre so. Als wir unsere Sturm- und-Drang-Zeit hatten, sind wir immer aus Brandenburg nach Ostberlin gekommen. Das war für uns das Paradies. Wir kannten ja nur das Dorf.
Was fanden Sie paradiesisch?
MÜLLER: Na, Jugendmode, einkaufen. Ich bin mit nem ganzen Zettel hier angereist: Jesuslatschen, Batikhemden. Und immer stand ’ne Schlange vorm Laden.
Hätten Sie lieber im Westen gelebt?
MÜLLER: Ach, das kann man nicht so leicht beantworten. Mein Vater war Genosse, Erzieher im Kinderheim, dort haben wir auch gewohnt. In Reetz bei Wiesenburg. Ich habe viel Fußball mit den Heimkindern gespielt. Mir war nie langweilig, mir hat nichts gefehlt.
Gar nichts?
MÜLLER: Doch, später dann, das Bunte, die Möglichkeiten. Im Osten warst du doch von Geburt bis zur Bahre abgesichert, musstest dafür aber auf Dinge verzichten. Ich habe mir für 25 000 DDR-Mark meinen ersten Trabant gekauft, der war zehn Jahre alt. Hab ich mich mit abgefunden.
Was für ein Auto sind Sie gefahren, Herr Mayenknecht?
MAYENKNECHT: Immer irgendeinen VW, erst Käfer, später Golf.
MÜLLER: Als die Mauer fiel, hatte ich einen Lada 1600.
Wie haben Sie vom Mauerfall erfahren?
MAYENKNECHT: Aus dem Radio, aber erst am nächsten Morgen. Meine Frau und ich sind früh schlafen gegangen, weil wir am nächsten Morgen in die Normandie fahren wollten, wo sie ein Schulpraktikum machte. Auf dem Weg zur A2 haben uns Trabis den Weg versperrt, an den Brücken stand „Willkommen“. Das war sehr bewegend.
MÜLLER: Ich war auf einem 40. Geburtstag eines Geschäftsfreundes in Kaulsdorf. Dessen Tochter war im Sommer über Ungarn geflüchtet. Um 22 Uhr rief sie an und sagte: Glückwunsch zum Geburtstag, Papa, und zur Maueröffnung!
Und dann?
MÜLLER: Wir haben weitergefeiert. Ich bin früh aufgestanden, war um sieben im Betrieb. Ich war damals Fachdirektor im Kombinat für Landmaschinen. Die Kollegen standen schon auf dem Flur Schlange, Bierflasche in der Hand: Eh, Chef, könn wa ’n Tach freihaben. Ich hab gesagt: Kein Problem. Aber Montag wieder pünktlich hier sein! Nicht drüben bleiben!
Sind Sie auch gleich rübergefahren?
MÜLLER: Ja, Freitagabend. Nach Spandau. Da wohnte die Tante meiner Geschiedenen. Um acht waren wir da, um zehn sagt die Tante: Ach, Kinder, ich hab ja da noch ein Haus in der Petersburger.
Darauf haben Sie erstmal einen Schnaps getrunken.
MÜLLER: Nee. Wir haben gedacht: ein Mietshaus, alt, kaputt, bringt nur Ärger und Stress. Noch in der gleichen Nacht haben wir uns das Haus angeguckt. So schlimm sah es gar nicht aus. Ich habe mich dann bald selbständig gemacht, für die Firma Henkel gearbeitet, das Haus rekonstruiert. Zum Anfang lief es top.
Und wie lief es bei Ihnen, Herr Mayenknecht?
MAYENKNECHT: Gut! Ich habe gleich beschlossen, ich suche mir einen Job im Osten. Ich wollte die DDR nochmal so erleben, wie sie in den letzten Jahren war. Das hat sich dann gut gefügt. Mich hat jemand gefragt, was machen Sie, wenn Sie Ihr Projekt beendet haben? Haben Sie Lust, zur Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain zu kommen, zur WBF?
Sie haben damals in einem West-Berliner Stadtforschungsinstitut gearbeitet. Was war Ihr letztes Projekt?
MAYENKNECHT: Ich glaube, eine Umweltdatenbank für Europa.
Und das erste Projekt im Osten?
MAYENKNECHT: Der Aufbau einer Vertriebsabteilung bei der WBF.
Der Mauerfall war für Sie also eine Chance, noch einmal neu anzufangen?
MAYENKNECHT: Für mich ja, die Zeit bei der WBF war wunderbar. Das hätte von mir aus auch noch so weitergehen können. Aber es gab auch viele, die keine Chance mehr hatten, vor allem im Osten.
MÜLLER: Die haben sich umgebracht, ganz einfach. Das weiß ich von einem Bekannten, in der Stasi-Zentrale haben sich vier an einem Tag das Leben genommen. Dienstwaffe genommen, abgeschossen.
MAYENKNECHT: Unternehmen mussten schließen, wurden plattgemacht. Von der Treuhand, von Westfirmen.
MÜLLER: Ich hatte bei mir im Betrieb 60 Frauen, die in ihrem Leben nichts anderes gemacht hatten, als Muttern und Schrauben abzuzählen. Die haben gedacht, es geht immer so weiter und weigerten sich, die Sonderregelung für Frührentner anzunehmen. Ich habe die angebrüllt. Unterschreiben Sie hier! Sie kriegen nie wieder so eine Chance in Ihrem Leben! Später habe ich die eine zufällig in der Kaufhalle getroffen. Sie hat mich umarmt, aus Dankbarkeit!
Aber auch bei Ihnen lief es dann nicht mehr so gut, Herr Müller?
MÜLLER: Ja, meine Ex hat sich einen anderen genommen, der hat für das Haus Firmen mit fadenscheinigen Begründungen engagiert, obwohl er wusste, dass er sie nicht bezahlen kann. Meine Frau hatte als Eigentümerin immer den Hut auf. Sie hatte ja alles unterschrieben, sie war die Eigentümerin, sie wurde haftbar gemacht und musste ins Gefängnis.
Und was hatten Sie damit zu tun?
MÜLLER: Ich hatte einen Kredit aufgenommen, für den meine Frau gebürgt hat. Als sie die Bürgschaft zurückgezogen hat, habe ich in einer Woche so viele Zahlungsaufforderungen bekommen, dass ich nur noch sagen konnte: Ich hab nichts mehr. Machen Sie ne Privatinsolvenz! Die Schulden bin ich bis heute nicht los.
Haben Sie manchmal darüber nachgedacht, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie im Westen aufgewachsen wären, Herr Müller, und Sie Herr Mayenknecht, im Osten?
MÜLLER: Ich als Westler hätte nach der Wende sicher mein Fachwissen gegenüber den doofen Ossis ausgenutzt.
MAYENKNECHT: Ich hätte in der DDR sicher irgendwie mitgemacht. Sport hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt, vielleicht hätte ich da was für mich gefunden. Ich wäre vermutlich auch in die Partei gegangen und hätte in einem Kombinat gearbeitet oder so. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es Ereignisse gegeben hätte, wie den Prager Frühling, wo ich gesagt hätte, das will ich nicht mehr mitmachen, und dann von Hiddensee mit dem Boot geflohen wäre.
MÜLLER: Ich habe meinen Eltern immer vorgeworfen, dass sie als Flüchtlinge im Fläming hängengeblieben sind. Bis Hannover waren es nur noch 120 Kilometer. Mein Vater kam aus einer Familie mit Restaurant, Fuhrbetrieb und Spedition. Die hatten eine Ausflugsgaststätte mit eigener Badeanstalt. Sowas hätte ich gerne gemacht.
MAYENKNECHT: Können Sie denn kochen?
MÜLLER: Nö, muss ich doch nicht. Als Kaufmann musst du dir einen Fachmann leisten.
Noch eine andere hypothetische Frage: Wie wäre Ihr Leben weitergegangen, wenn die Mauer nicht gefallen wäre?
MÜLLER: Ich hatte ja eine Frau mit Westverwandtschaft geheiratet. Wenn die bei mir geblieben wäre, wäre es uns gut gegangen. Es hieß ja nicht umsonst, du kannst nirgendwo besser wohnen als im Osten, wenn du Westgeld hast. Sie lachen, Herr Mayenknecht, aber das war so.
MAYENKNECHT: Den Satz habe ich noch nie gehört.
MÜLLER: Meine Frau war Bibliothekarin, hat 800 Ostmark verdient, ich als Fachdirektor knapp 2000. Ihre 800 haben locker für Essen und Trinken gereicht. Das hat ja alles nichts gekostet. Für unser Haus, 130 Quadratmeter mit Tiefgarage und 600 Quadratmeter Garten, haben wir 97 Mark bezahlt. Mehr nicht.
Und Sie, Herr Mayenknecht? Wären Sie auch Immobilienmakler geworden, wenn die Mauer noch stehen würde?
MAYENKNECHT: Nee. Das ist ja kein Beruf, den ich mir ausgesucht hätte. Ich hätte sicher weiter im Wissenschaftsbetrieb gearbeitet, Daten auswerten, Berichte schreiben, veröffentlichen. Das war ein ganz schöner Druck, ich war froh, dass ich zur WBF wechseln konnte, aber dann wurde die WBF mit der Wohnungsbaugesellschaft Mitte zusammengelegt, ganze Abteilungen wurden ausgelagert. Die haben zu mir gesagt: Sie machen sich selbständig und verkaufen für uns Wohnungen. Das hätte ich nie freiwillig gemacht. Nie. Aber wie immer in meinem Leben nahm auch das wieder eine gute Wendung.
MÜLLER: Sie sind immer auf der Sonnenseite geblieben.
MAYENKNECHT: Ja, durch die vielen Verkäufe, die wir bei der WBF machen konnten, kommen heute noch Leute zu mir, die sagen, wir möchten, dass Sie unsere Wohnung verkaufen.
MÜLLER: Also, ich kann mit Ihnen nicht so richtig Mitleid haben. Dass es nicht so gelaufen ist wie Sie wollten, glaube ich schon. Aber was draus geworden ist, ist doch nicht nachteilig, wenn ich Sie so sehe.
Und wenn Sie jetzt nochmal 28 Jahre leben würden, ohne Mauer natürlich. Was würden Sie erwarten?
MAYENKNECHT: In 28 Jahren bin ich 102. Ost-West wird dann kein Thema mehr sein, ist es schon jetzt nicht mehr für mich. Wichtig ist Europa, die Klimaerwärmung, dass wir uns darum kümmern. Ich denke, wir werden blühende Landschaften haben, wie unser damaliger Kanzler es versprochen hat.
MÜLLER: (schweigt, sieht aus dem Fenster).
Herr Müller, was sagen Sie?
MÜLLER: Ich denk an so etwas nicht. Ich brauch ja nur den Fernseher anmachen, und ich kriege schon einen Hals. Rente, Miete, wir wissen nicht, wie sich das entwickeln wird. Sie, Herr Mayenknecht, haben ja ganz andere Voraussetzungen als meine Frau und ich. Wir sind für unser restliches Leben von Fremden abhängig, Sie nie.