Integration: Wie ist die Rolle des türkischen Mannes in der Gesellschaft?
Das deutsche Verhältnis zur Türkei ist angespannt. Der türkische Gesellschaftskonflikt schlägt sich auch bei den nach Deutschland eingewanderten Familien nieder, dabei ist sowieso längst nicht alles geklärt zwischen Deutschen und Deutsch-Türken. Man könnte Kazim Erdogan als einen Experten für dieses Verhältnis bezeichnen. Die Autorin Sonja Hartwig hat jetzt ein Buch über ihn und seine Männergruppe geschrieben.
Der Neuköllner Psychologe zeige uns, wie Zusammenleben funktioniert, sagt sie. Wie Deutsche und Türken in Neukölln und Deutschland besser zusammenleben können interessiert uns auch. Wir sprechen mit Kazim Erdogan in den Räumen seines Vereins Aufbruch Neukölln in der Uthmannstraße bei einer Tasse starkem türkischem Tee.
Herr Erdogan, Sie sind jetzt Rentner. Können Sie die Ruhe aushalten?
Ich bin nur auf dem Papier Rentner. Sonst eher im aktiven Unruhestand, weil ich jetzt noch mehr Projekte habe als früher beim Bezirksamt Neukölln.
Sie haben Ihren Verein „Aufbruch Neukölln“. Seit wann gibt es den?
Der Verein war schon da, als ich 2003 nach Neukölln kam, aber er war eine Karteileiche. Ich habe damals gesehen, dass wir ein Entwicklungsbezirk sind und noch dazu unter Wert verkauft, weil wir Deutsche immer davon ausgehen, was nicht klappt. Was wunderbar geht, spielt keine große Rolle. Aber dieser Bezirk hat so viele Pluspunkte.
Welche denn?
Na, Neukölln ist doch im Kommen. Als ich anfing, hatten wir 290.000 Einwohner, heute sind wir bei 335.000 und es sind erfreulicherweise 50.000 junge Akademiker und Studenten in unserem Bezirk. Die ganze Welt ist hier: Wo kriegt man Essen aus 160 Ländern, wo sonst werden 180 Sprachen gesprochen? Das ist Reichtum. Klar, wir haben auch Probleme. Ich will nicht alles schönreden. Aber ich betrachte die Probleme aus positiver Sicht.
Was macht ihr Verein gerade?
Wir haben sieben Väter- und Männergruppen, manche sind international, manche rein türkisch. Wir haben unzählige Projekte, darunter auch eine Malgruppe für Mütter mit psychischen Störungen. Im Januar werden wir ihre Bilder ausstellen und verkaufen, damit diese Mütter das Gefühl einer positiven Entwicklung bekommen. Ich biete auch weiter Gespräche an.
Was sind das für Gespräche?
90 Prozent der Probleme in unserer Gesellschaft beruhen auf Kommunikations- und Sprachlosigkeit. Wir sprechen immer weniger. Das wollen wir bekämpfen. Deshalb werden wir eine deutsche Woche der Sprache und des Lesens organisieren in vielen Städten und Gemeinden. Wir haben das schon dreimal in Neukölln gemacht und einmal in Berlin mit 1400 Veranstaltungen. 300 Autoren haben in Schulen und auf U-Bahnhöfen gelesen.
Wie kam das an?
Erst wurde ich belächelt und ausgelacht: Ein Türke, der selbst so viele Rechtschreibfehler macht, will uns etwas über unsere Sprache beibringen. Aber dann hatte ich Erfolg. Es hängt davon ab, dass man glaubt, dass es klappen wird. Das Wort „aber“ wirkt wie eine Bremse.
Ihre berühmte Gruppe für türkische Männer hat auch so angefangen?
Ich habe drei Männer eingeladen, die ich kannte und wir haben uns drei Stunden lang sehr intensiv unterhalten. Ich hatte schon die Gründung der ersten türkischen Vätergruppe im Kopf, aber ich wollte nicht den Chef spielen. Also habe ich die Männer gefragt, ob sie wiederkommen wollen. Sie sind dann jeden Montag gekommen, und dann kamen immer mehr.
Im Buch werden die Gespräche wiedergegeben. Die Männer sehen sich selbst als Machos, sie fühlen sich aber auch in dem Land, in dem sie leben ausgegrenzt. Warum?
Diese Männer sind Importbräutigame. In 45 Jahren Migrationsgeschichte in Deutschland spielten die nur nie eine Rolle. 40 Prozent der Eheschließungen sind Importehen. Ein Mann, der in seiner Erziehung gelernt hat, dass er der Chef der Bande ist, dass er seine Familie ernähren und beschützen muss, dann aber in den ersten Jahren nicht arbeiten darf, der Sprache nicht mächtig ist, von seiner Frau ein Taschengeld bekommt, müsste auf diese Situation vorbereitet werden. Das geschieht aber nicht. Es passieren dann Sachen, die sie nicht verstehen können. Über diese Menschen wird gesprochen, aber niemand spricht mit ihnen.
Haben sich die Gesprächsthemen in den vergangenen Jahren verändert?
Wir haben Dauerbrenner. Wir sprechen immer wieder über gewaltfreie Erziehung, die Rolle des türkischen Mannes in der Gesellschaft, Erziehungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Darauf können wir nicht verzichten. Wir sprechen auch über Ehre, zum Beispiel über die Frage, wer uns dazu ermächtigt hat, dass ich die Ehre meiner Tochter, meiner Frau, meiner Schwester schützen soll. Der Begriff Ehre ist innen hohl.
Warum?
Ich habe einmal 35 Männer gebeten aufzuschreiben, was für sie Ehre ist. Nach 45 Minuten hatte keiner was geschrieben. Ich habe dann aber nicht vorwurfsvoll gesagt: „Ihr anatolischen Paschas, was nun?“ Wir haben darüber gesprochen und heraus kam, dass mit Ehre vielleicht gemeint sei, was zwischen den Beinen der Frau ist. Das kann ja wohl nicht sein. Wir haben dann den Begriff mit Inhalt gefüllt: Ehrenhaft verhält sich jemand, der solidarisch ist, der nicht klaut, der Älteren hilft, der nicht schlecht über andere spricht.
Wir müssen uns aber auch um die Frauen kümmern. Wenn die Mutter dem zweijährigen Sohn sagt, du hast in der Küche nichts verloren, dann ist es kein Wunder, wenn er mit 15 Jahren nicht mal seinen Teller in die Küche transportiert.
Gibt es Tabus?
Am Anfang war es sehr schwer, über Sexualität zu sprechen. Heute geht das. Wir reden darüber, was Liebe ist, ob es auch Beziehungen ohne Sex geben kann. Aber wir backen kleine Brötchen. Ich sage ihnen nicht, du musst dich verändern. Das käme als Beleidigung an. Ich sage, ich möchte etwas daran verändern. Meine Männer sagen oft zu mir, „Herr Erdogan, wir haben so viel von Ihnen gelernt“. Ich sage: „Stimmt nicht, ich habe von euch gelernt.“ Wir müssen von ich und du zu einer Wir-Form finden. Das betrifft auch das Verhältnis zu meinen deutschen Landsleuten.
Das scheint im Moment sehr schwierig zu sein. Der Wunsch nach Abgrenzung ist sehr stark. Man sieht es an Pegida und der AfD?
Ja, das stimmt. Ich kann mir also überlegen, dass 20 Prozent rassistisch und ausländerfeindlich sind. Aber dann habe ich doch trotzdem eine Masse von 80 Prozent, die anders ist. Man muss immer vom Positiven ausgehen. Ich hatte mal Besuch von Polizisten und Mitarbeitern der Ausländerbehörde. Manche haben gesagt, dass sie AfD und NPD wählen. Aber zum Schluss haben sie mir gesagt, sie würden nun anders über Ausländer denken. Man sollte nie aufgeben. Ich würde auch mit Pegida-Leuten reden. Ich lebe seit 43 Jahren hier, habe 38 Jahre im öffentlichen Dienst gearbeitet, immer Steuern gezahlt, vielleicht können sie mich dann in die Spalte Deutscher eintragen.
Wie gehen Sie denn mit Menschen um, die glauben, die Türken hier leben noch im Mittelalter?
Ich gebe ihnen positive Beispiele. In der Karl-Marx-Straße praktizieren 45 Ärzte mit türkischer Zuwanderungsgeschichte, die sind hier geboren und aufgewachsen und sind gebildete Leute. Es nützt überhaupt nichts, in Talkshows zu sitzen und zu schimpfen und den Zustand zu beklagen. Man muss mit anpacken. Wenn wir die Ereignisse seit Juni letzten Jahres sehen, da war die Demonstration pro Erdogan in Köln mit 40.000 Menschen, aber statt zu sagen, das ist eine Minderheit von 3,2 Millionen Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte, sehen wir das als Apokalypse. Und genauso war es nach der Abstimmung über die türkische Verfassungsänderung. 50 Prozent der Menschen in Berlin haben dagegen gestimmt.
Ist es ein hartes Los für Sie, den Namen Erdogan zu tragen?
Ich werde damit tausendmal im Jahr konfrontiert. Ich sage, Kazim Erdogan aus Berlin, nicht verwandt und nicht verschwägert mit dem türkischen Staatspräsidenten.
Sie haben mal Thilo Sarrazin zu einer Gesprächsrunde eingeladen, nachdem er in „Deutschland schafft sich ab“ Türken als Bedrohung dargestellt hatte. Warum?
Es ist immer besser zu reden. Reden, reden, reden, das ist das Wichtigste. Von uns wurde er menschlich behandelt, nicht beschimpft und nicht ausgegrenzt.
Er spaltet, Sie halten Gemeinsames dagegen?
Genau. Trennende Wände in den Vordergrund zu stellen, ist aus meiner Sicht eine Schwäche. Nach dem Buch von Sarrazin haben 90 Prozent der Menschen mit türkischer Zuwanderungsgeschichte gedacht, 90 Prozent der Deutschen sind Rassisten. 70 Prozent von meinen deutschen Landsleuten haben gedacht, die Muslime würden nach 30 Jahren das Land mit friedlichen Mitteln erobert haben. Beide Annahmen sind falsch. Ein Angstzustand hatte die Oberhand gewonnen.
Haben Sie sich nie abgelehnt gefühlt in diesem Land?
Nein. Wenn ich in der Woche dafür sorgen kann, dass drei Menschen ihre Einstellung verändern, dann ist das eine kleine Revolution, das sind 156 Menschen in einem Jahr. Ich habe in den 13 Jahren beim Bezirksamt 42.000 E-Mails bekommen. 41.700 waren positiv. Ich habe auch Beschimpfungen bekommen, aber ich habe sie nie dem ganzen deutschen Volk zugeschrieben.
Gab es Ablehnung von türkischer Seite?
Selbstverständlich. Als ich im vergangenen Jahr die Armenien-Resolution im Bundestag begrüßt habe, wurde ich Populist und Haustürke genannt. Aber es ist wichtig, dass man aufsteht.
Sind Menschen, die sich sehr stark mit der Türkei identifizieren überhaupt angekommen hier?
80 bis 90 Prozent der Leute, die sich mit der Türkei identifizieren, sind Menschen, die keine gefestigte Identität haben. Sie stehen mit ihren Gefühlen zwischen Baum und Borke. Sie kennen die Türkei aus dem Urlaub und sie denken, das ist ein Paradies. Aber es ist nie zu spät, sie zu überzeugen. Wir müssen an dem Wir-Gefühl basteln.
Sind Sie immer so positiv?
Fast immer. Ich denke mir immer, auch wenn du abgelehnt wirst, lehne den anderen nicht ab. Das ist meine Lebensphilosophie. Wenn jeder kleine Brötchen backen würde, wären wir schnell weiter.