Interview mit Friedrich Kiesinger: „Alte Menschen brauchen Lobbyisten “
Berlin - Friedrich Kiesinger ist Psychologe und Chef von Albatros, einer gemeinnützigen Firma, die sozial Schwachen in Berlin Hilfe anbietet. Er kennt die Probleme und Bedürfnisse älterer Menschen. Wenn die Einwohnerschaft altert, sagt Kiesinger, müsse man vor allem eines organisieren: gesellschaftliche Teilhabe. Da tue sich viel zu wenig.
Herr Kiesinger, Sie selber sind fast 65 Jahre alt und leiten eine riesige Notunterkunft für Flüchtlinge. Haben Sie schon mal so viel gearbeitet wie in den letzten Monaten?
Nein, wir haben seit September rund um die Uhr gearbeitet. Anders hätten wir die zigtausend Flüchtlinge nicht aufnehmen und versorgen können. Und es geht ja weiter.
Hatten Sie keine Angst, zusammenzuklappen?
Eigentlich nicht. Mein Körper und meine Seele hätten mir schon signalisiert, wenn es zu viel wird. Dann hätte ich kürzer getreten.
Wie lange wollen Sie das machen?
Bis 70.
Das ist so beschlossen?
(lacht) Das kann man doch nicht einfach beschließen. Es ist eine Gnade, wenn die eigene Familie das mitmacht und man gesund bleibt. Ich habe so viele Kollegen, die von einem Tag auf den anderen Tag hören, dass sie Krebs haben …
Abgesehen von Krankheiten, Herr Kiesinger: Wann ist man alt?
Wenn ich aufhöre, neugierig zu sein. Wenn ich keine Lust mehr habe auf das Leben, kein lebendiger Teil der Gesellschaft mehr sein will. Wenn ich mich nur noch auf ganz kleine Segmente wie meine Krankheit konzentriere und darüber nachdenke, wann es soweit ist, dass ich abtrete. Dann bin ich wirklich alt.
Berlin verändert sich rasant. Es ziehen zigtausend junge Menschen in die Stadt, sie wird schneller, schriller, teurer. Können Alte noch mithalten?
Es besteht die Gefahr, dass die Älteren an den Rand gedrängt werden. Ich meine das nicht nur räumlich, also dass sie ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen können. Es geht auch um Aufmerksamkeit und die Verteilung von Ressourcen. Alte brauchen dringend Lobbyisten.
Die Politik kümmert sich zu wenig?
Politik muss insgesamt darauf achten, dass die Gesellschaft nicht auseinanderfällt, dass niemand ausgegrenzt wird. Dazu gehören selbstverständlich auch die Alten.
Die Generation der über 65-Jährigen wird erheblich wachsen. Wie bekommt Berlin diesen Wandel hin?
Ich komme aus dem Schwarzwald. Ich bin so aufgewachsen, dass Behinderte und Alte Teil der Dorfgemeinschaft waren und bei der Ernte angepackt haben. Deshalb halte ich so viel von dörflichen Strukturen in Großstädten. Wir brauchen Quartiere und Wohnsituationen, in denen niemand anonym ist, sondern unterschiedliche Gruppen sich mischen. Es geht um Integration!
Sind Alte und Junge nicht lieber unter Gleichgesinnten?
Ich sage ja nicht, dass jeder so leben muss. Wenn ein alter Mensch keine Kita mit Kindergeschrei in seinem Haus haben will, sondern lieber unter seinesgleichen ist, dann muss das genauso möglich sein. Entscheidend ist die Vielfalt. Und dass die Älteren mobil bleiben und nicht in ihrer Wabe festsitzen.
Wird genug für Mobilität getan?
Es wird viel zu wenig getan, nicht nur in Berlin. Deutschlandweit gibt es kaum Wohnstrukturen, die barrierefrei sind. Nehmen Sie das Märkische Viertel. Bei der Modernisierung der Häuser ging es viel um Wärmedämmung und Energieeinsparung, aber die Barrierefreiheit hätte noch besser gemacht werden können, um es vorsichtig zu sagen.
Barrierefrei Wohnen ist noch keine Integration. Wie schafft man es, dass Alte Teil der Gesellschaft bleiben?
Für mich ist der zentrale Punkt Arbeit. Nehmen wir als Beispiel meinen Vater, der Leiter der dörflichen Schule war. Er war super engagiert, hatte Lust, der Gemeinschaft zu dienen und zu gestalten. Auch in seiner Freizeit. Als er in Pension ging, blieb ihm der Seniorenclub. Damit begann sein gesellschaftlicher Abstieg. Da gab’s Intrigen kleinlichster Art, die ihn verzehrt haben. Ich habe für mich damals gelernt: So funktioniert es nicht.
Aber gilt das für alle Menschen?
Ich habe so viele Kollegen, die sagen: Ich will noch nicht in Rente, ich will weiterarbeiten. Auch welche, die schwer krank sind. Die wollen nicht zu Hause hocken und von Arzttermin zu Arzttermin rennen. Die wollen Teil von etwas bleiben. Der Staat hat da schon einiges getan, indem er den Renteneintritt etwas durchlässiger gestaltet hat. Da muss noch viel mehr passieren.
Und wenn es mit der Arbeit nicht mehr klappt?
Wichtig ist, Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen. Meine Erfahrung ist, dass das am besten über kulturelle Angebote funktioniert, da können die Menschen drin aufgehen. Bei uns kommen besonders viele, wenn gesungen wird. Das ist ein wirklich elementares Gemeinschaftserlebnis. Daraus entwickeln sich dann viele andere Aktivitäten.
In Berlin gibt es doch genug kulturelle Angebote.
Ja, aber die kosten Geld. Außerdem trauen viele ältere Menschen sich da nicht alleine hin. Die machen sich Sorgen, dass ihr Anzug zu schäbig ist. Sie brauchen andere Menschen, mit denen sie etwas zusammen erleben können.
Wer soll all die Teilhabe-Angebote für die Älteren schaffen?
Unser deutsches Modell hat sich bewährt, finde ich. Es gibt nichtstaatliche Organisationen, die im Idealfall wie Schnellboote sind und Dinge vorantreiben. Wenn wir nur auf den Staat warten würden, hätte sich unser Sozialsystem schon ewig nicht mehr weiterentwickelt. Freie Träger sind extrem wichtig …
… die der Staat finanzieren soll.
Ja, solche Strukturen funktionieren nicht nur ehrenamtlich. Sie brauchen hauptamtliche Mitarbeiter, die von der Regierung, von den Krankenkassen, von der Rentenversicherung oder der Berufsgenossenschaft als deren Kooperationspartner finanziert werden.
Die Sozialindustrie, wie ich sie jetzt mal nenne, erlebt gerade eine Renaissance. Dank der Flüchtlinge?
Nö, das sehe ich nicht so, mit der Flüchtlingswelle kam eher etwas anderes zum Vorschein: Unsere verkrustete Verwaltung muss jetzt so aufgestellt werden, dass wir auf Veränderungen schneller reagieren können und nicht in der Bürokratie stecken bleiben. Ich war überrascht, was wir alles geschafft haben.
Sie schimpfen nicht auf den Staat?
Ich bin doch Teil des Staates, indem ich mich für die Gesellschaft engagiere! Wenn ich so reden würde, hieße das, ich habe selbst versagt.
Was wünschen Sie sich vom Senat für eine Seniorenpolitik?
Es gibt im Moment eine starke Tendenz zu sagen: Der Staat muss alles regeln. Es entstehen sehr viele Kontrollmechanismen, anderen Strukturen wird immer weniger vertraut. Dabei kommt vieles, was sich in Berlin positiv entwickelt, aus der freien Trägerschaft. Von Bürgern, die sich zusammengeschlossen haben. Sie sorgen für die nötige Vielfalt, die Berlin so attraktiv macht. Der nächste Sozialsenator sollte stärker auf freie Träger und gemeinnützige Strukturen setzen. Er sollte Innovationstöpfe für die Entwicklung von sozialem Engagement bereitstellen. Man muss die Zivilgesellschaft fördern.