Interview mit Kazim Erdogan über Türken in Deutschland

Auf dem Schreibtisch von Kazim Erdogan stehen eine türkische und eine deutsche Flagge. Er hat Tee gekocht und  das Nationalgebäck, Sesamringe, für seine Gäste gekauft. Vergangenen Freitag hatte der 63-jährige Psychologe seinen letzten Arbeitstag im Jugendamt Neukölln, aber für ein besseres Verhältnis zwischen Deutschen und Türken will er sich ehrenamtlich weiter einsetzen.

Herr Erdogan, der türkische Präsident hat nach dem Putschversuch viele Journalisten, Offiziere und Richter verhaften lassen, hat Grundrechte außer Kraft gesetzt. Unter Deutsch-Türken wird er dafür gefeiert. Warum?

Bei den Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, handeln viele aus Unwissen heraus. Sie kennen das Land der Großeltern nur aus dem Urlaub, aber nicht die Armut und die Schattenseiten der Türkei. Andere fühlen sich oft in Deutschland nicht angekommen, sehen sich als benachteiligt und suchen nach Sündenböcken. Sie geben den Deutschen die Schuld.

Sind nicht jüngere Deutsch-Türken eher kritisch eingestellt?

Bei den Jugendlichen, die sich als Versager der Nation fühlen, ist die Unterstützung noch größer, während die Älteren oft die Lebensbedingungen in der Türkei besser kennen. Die Gastarbeiter der ersten Generation haben unter schwierigen Bedingungen gelebt. Sie haben sich nicht beklagt, weil sie eine Hoffnung hatten. Viele Angehörige der zweiten oder dritten Generation sehen keine Perspektive. Sie haben vielleicht Benachteiligungen erlebt, haben eine Wohnung, einen Job nicht bekommen, weil sie einen türkischen Namen tragen. Bei ihnen ist der Nationalstolz stärker ausgeprägt.

Ein Taxifahrer sagte, dass er in seiner Familie als Verräter gelte, weil er den Präsidenten kritisiert. Kennen Sie solche Beispiele?

Die türkische Community ist traditionell sehr zersplittert, in Kemalisten, Nationalisten, Linke und Rechte, Sunniten und Kurden, Konservative und Säkulare. Wir haben versäumt, eine gemeinsame Diskussionskultur zu entwickeln. Wenn ein Satz, ein Wort jemandem nicht gefällt, wird man sofort niedergemacht. Alle sind dauernd beleidigt. Ich habe kürzlich in einem Interview gesagt, dass viele Türken sich nicht mehr trauen, kritisch über Erdogan zu reden. Daraufhin habe ich Hunderte E-Mails erhalten, in denen ich als Verräter beschimpft wurde. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich von Landsleuten beschimpft werde.

Hat es Sie überrascht, wie groß die Wut unter Deutsch-Türken ist?

Wir haben seit Langem ein Problem, Deutsche und Türken wissen zu wenig voneinander, reden aneinander vorbei. Sehr wenige Menschen lesen deutsche Zeitungen und deutsches Fernsehen. Auch die Jüngeren beschäftigen sich eher mit türkischen Medien. Viele sind aufgeladen wie tickende Zeitbomben. Jetzt wäre die Zeit, sich zusammenzusetzen und Fehler zu analysieren. Stattdessen sehe ich mehr Spaltung, Stigmatisierungen, Rufmordkampagnen. Wo kommen wir denn hin, wenn man Leute per SMS, per Mail, per Flyer auffordert, in bestimmten Geschäften nicht einzukaufen? Das erinnert mich ans Dritte Reich.

Es gibt Boykottaufrufe gegen bestimmte türkische Ladeninhaber?

Ich habe auf meinem Handy Nachrichten mit Listen erhalten, auf denen die Namen von Berliner Geschäften stehen, die angeblich von Gülen-Sympathisanten geführt werden…

… Fetullah Gülen ist ein Prediger, den der türkische Präsident als Drahtzieher des Putsches verdächtigt.

Man wird per Flyer aufgefordert: Kauft dort nicht ein! Angeblich gibt es in der Türkei auch eine Stelle, bei der man sich melden soll, um bestimmte Personen zu denunzieren. Ein langjähriger Freund von mir hat einen Discounter, er steht auch auf der Liste, obwohl er mit Gülen nichts am Hut hat. Solche Aktionen vergiften die Atmosphäre. Die Menschen schlucken ihre Meinung herunter, verkriechen sich, und irgendwann macht die Seele das nicht mehr mit. Dann explodieren sie, und wir wundern uns.