Interview mit Marion Brasch: Prenzlauer Berg ist nicht mehr so interessant
Berlin - Marion Brasch lebt in Prenzlauer Berg, das Interview findet in ihrer Wohnung statt. Ihre warme Stimme und ihre unaufgeregte Art zu sprechen, kennen viele Berliner aus ihren Sendungen bei Radioeins. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Familie, ihrem Heimatgefühl und wie es ist, als Kreative in Berlin zu leben.
Frau Brasch, wie lange leben Sie schon in Prenzlauer Berg?
Ich wurde in Mitte geboren und lebe seit den 80er-Jahren in Prenzlauer Berg. Als ich zehn war, mussten wir nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, umziehen. Diese Episode dauerte etwa fünf Jahre, aber dann sind wir zurückgekommen.
Was haben Sie für Erinnerungen an die Zeit dort?
In Karl-Marx-Stadt haben wir in einer Neubausiedlung gewohnt, dem Hans-Beimler-Viertel. Klassische DDR-Platte. Aber wenn man Kind ist, spielt es keine große Rolle, wo man wohnt. Spielen kann man ja überall. Allerdings hat mir Berlin immer gefehlt. In Karl-Marx-Stadt habe ich mich nie zu Hause gefühlt, aber das lag nicht an der Stadt oder daran, dass die Leute dort anders sprachen. Ich hatte einfach immer Heimweh. Neulich hatte ich mal eine Lesung in Chemnitz. Das Neubaugebiet sieht noch genauso aus. Es ist etwas grüner, weil die Bäume inzwischen groß sind. Aber die Innenstadt habe ich kaum wiedererkannt, da ist alles neu und komplett zugebaut.
Wie war die Rückkehr nach Berlin?
Großartig. Da habe ich zwar auch wieder in der Platte gewohnt, in einem dieser Hochhäuser an der Leninallee, das ist heute die Landsberger. Aber nach meiner Schriftsetzerlehre war ich da ganz schnell wieder weg und bin zu meinen Freunden nach Prenzlauer Berg gezogen.
Ich habe oft das Gefühl, dass Menschen aus dem Westteil problemlos in den Ostteil der Stadt ziehen, während hingegen Menschen aus dem Osten weniger gern im Westen Berlins leben würden. Stimmt das?
Stimmt, ich kenne auch nur wenige Leute, die vom Osten nach West-Berlin gezogen sind. Ich hatte mal einen Freund in Kreuzberg, den habe ich oft besucht, und ich fand es immer schön in seiner Gegend am Planufer. Aber das war trotzdem wie eine andere Stadt für mich, und so ist es noch heute. Vielleicht ticken die Ost-Berliner da anders als die West-Berliner.
Sind Ost-Berliner heimatverwurzelter als West-Berliner?
Ich weiß nicht genau, ich kann nur für mich sprechen. Vielleicht gibt es einfach mehr Ost-Berliner, die hier großgeworden sind. Im Westen der Stadt gab es ja immer sehr viel mehr Zuzug. Ich könnte mir vorstellen, dass für die West-Berliner das Umziehen viel selbstverständlicher war als für uns. Ein Grund könnte auch die „Übernahme“ des Ostens durch den Westen gewesen sein: Alles wurde quasi über Nacht anders, Veränderung hatten wir also mehr als genug, da mussten wir nicht auch noch umziehen. Ich denke, für die Ostler war die Wiedervereinigung eine sehr viel größere Zäsur als für die Westler. Vielleicht ist deshalb die Verwurzelung größer, und sie wollen bleiben, wo sie sind.
Das gilt auch für Berlin?
Für mich schon. In meine Gegend sind sehr viele Leute aus dem Westen gezogen, was ich gut verstehen konnte. Ich glaube, die Neugier war auch einfach sehr groß. Ich glaube, dieses Ost-Berlin in seiner Unaufgeräumtheit hatte Anfang der 90er eine sehr große Anziehungskraft auf junge West-Berliner. Die Wohnungen waren billiger, alles war noch so unerschlossen, das war vermutlich cool. Wie in den alten Zeiten von Kreuzberg. Aber das hat sich mit jedem sanierten Haus geändert.
Können Sie die Enttäuschung vieler Menschen über die Entwicklung von Bezirken wie Prenzlauer Berg verstehen? Dass das hier mittlerweile ist wie im Westen: saturiert, aufgeräumt, durchstrukturiert.
Durchaus. Der Prenzlauer Berg ist nicht mehr so interessant, wie er es mal war. Hier gab es eine gute Mischung unterschiedlicher sozialer Schichten: Künstler, Angestellte, Arbeiter, Alte, Junge, und das ist komplett verschwunden. Es ist aufgeräumt, schick und langweilig. Man sieht kaum noch alte Leute auf der Straße und kaum noch jemand berlinert, das ist auch nicht schön. Ich erwische mich manchmal dabei, wie ich noch stärker berlinere als sonst, wenn Leute mit anderen Dialekten um mich herum sind. Das ist vielleicht so, als würde ich mein Revier markieren.
Die Gentrifizierung in Prenzlauer Berg nervt Sie?
Ja, sie nervt mich, obwohl sie mich persönlich zum Glück noch nicht betrifft. Meine Wohnung ist zwar teurer geworden, aber noch kann ich sie mir leisten. Meine Freunde leben hier in der Gegend, und ich fühle mich immer noch wohl in meinem Viertel. Es gibt also keinen Grund für mich wegzuziehen. Und hoffentlich wird es den auch in Zukunft nicht geben. Ich finde, Berlin hätte jetzt noch die Chance, es besser zu machen als London, Paris oder New York, wo es sich niemand mehr leisten kann, in den Innenstädten zu wohnen. Sie könnten zum Beispiel in meinem Nachbarhaus damit anfangen. Das ist das letzte nicht sanierte Haus in meiner Straße und seit Jahren Spekulationsobjekt. Das könnte die Stadt prima selber sanieren und die Leute drin wohnen lassen.
Betrachten Sie Prenzlauer Berg als Ihre Heimat?
Ja.
Wie haben Sie den Mauerfall empfunden?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich gehörte zu den Leuten, die beim Mauerfall dachten, dass eine Chance verpasst wurde, etwas Neues zu probieren. Eine andere, demokratische und offene DDR – eine Art dritter Weg. Aber der Zug war ein für alle Mal abgefahren. Kohl wollte Geschichte schreiben, und die Mehrheit der Ostdeutschen wollte die D-Mark. Und dann ging alles viel zu schnell, der Osten wurde buchstäblich eingeatmet, und die Leute hier hatten kaum Zeit, Luft zu holen und sich zu orientieren.
Ihre Vita ist außergewöhnlich. Sie sind das jüngste von vier Kindern und haben alle Familienmitglieder verloren. Erlebt man das in einer Stadt wie Berlin, die ja in großen Teilen auch von Trennung und Verlust geprägt ist, vielleicht anders?
Ich weiß nicht, man begreift die Stadt, in der man lebt, ja nicht als historisches Gebilde, sondern eher als Kulisse der eigenen Geschichte. Ich bin gern an den Orten, die ich mit meiner Familie verbinde. Ich bin direkt am Alexanderplatz aufgewachsen, neben der Kongresshalle. Und wenn ich in meiner alten Straße bin, oder dort, wo meine Brüder gelebt haben, habe ich sofort ein vertrautes Gefühl.
Ist es nicht schmerzhaft, an diesen Orten zu sein?
Nein, diese Orte gehören zu mir, ich habe da gespielt, pubertiert und bin dort erwachsen geworden. Es ist gut, dass es diese Orte gibt.
Ihre Vita, der Tod Ihrer Eltern und Ihrer drei Brüder ist immer wieder ein Thema, wenn man auf Ihre Person zu sprechen kommt. Belastet Sie das? Ist das ein Korsett, das Sie behindert?
So ein Gefühl hätte ich vielleicht, wenn ich nicht stolz wäre, zu dieser Familie zu gehören. Das waren ungewöhnliche Leute, jeder einzelne. Die Familiengeschichte war bei aller Normalität, die es auch gab, mitunter schwierig oder auch dramatisch und auch traurig, aber es war eben meine Familie. Und das bleibt sie auch.
Ihr Buch „Ab jetzt ist Ruhe“ ist also kein Befreiungsschlag von der Familie Brasch und ihrer in vielen Aspekten traurigen Geschichte?
Nein, denn ich hatte nie das Gefühl, mich befreien zu müssen. Ich habe nicht unter meiner Familie gelitten. Jedenfalls nicht so sehr wie meine Brüder. Als kleine Schwester hatte ich das Glück, immer etwas abseits zu stehen. Schwierig wurde es erst, als ich zwischen die Fronten geriet, aber daran bin ich auch gewachsen. Durch das Schreiben dieses Romans habe ich meine Familie noch mal auf ganz andere Weise kennengelernt und auch eine Menge über sie begriffen. Und ich setze das auch fort. Am Deutschen Theater läuft ein Abend, den ich über meine drei Brüder gemacht habe, gemeinsam mit meiner Tochter. Die Familiengeschichte geht also auf andere Art weiter.
Ihre Brüder waren Schriftsteller und Schauspieler. Sie sind selbst Schriftstellerin. Wie lebt es sich heute in Berlin als freischaffende Kreative?
Ich bin – noch – in der privilegierten Situation, relativ regelmäßig freiberuflich bei Radioeins arbeiten zu können. Das macht Spaß und ist ein großes Geschenk. Aber auch dort bleibt die Zeit nicht stehen, und es gibt Veränderungen. Deshalb ist es gut, wenn es mit dem Schreiben weitergeht. Vielleicht auch mit Theater, und wer weiß, was noch so kommt. Und wenn ich das alles in Berlin tun kann, umso besser.