Interview mit Zeitzeugin und Aktivistin Inge Lammel: "Flüchtlinge bereichern Berlin"

Wer von Inge Lammel gehört hat, denkt an eine tapfere, herzhafte, kämpferische Frau. Wer Inge Lammel besucht, trifft auf eine kleine, zierliche, herzliche Frau. Nach ihrem 90. Geburtstag stehen in der Schrankwand noch Blumensträuße, die sie von den vielen Gratulanten bekommen hat. In einem anderen Zimmer steht ein Hometrainer, den ihr ein Enkel geschenkt hat.

Inge Lammel ist bemerkenswert: Eine kultivierte Dame, die emanzipiert und erfahren wirkt. Ein Mensch, der sich selbst nicht so wichtig nimmt. Eine Frau, die alles ist: Zeitzeugin, Aktivistin und Antifaschistin. Musikwissenschaftlerin, Biografienforscherin und Publizistin. Ehefrau, Mutter und Großmutter. Während des Gesprächs rattert draußen alle zehn Minuten die Pankower Straßenbahn auf der Verbindungsstrecke nach Norden. Drinnen läutet gut hörbar die Wohnzimmeruhr mit dem Glockenschlag von Big Ben. Aber erst beim Abschreiben des Interviews vom Tonband nimmt man diese Geräusche wahr – so spannend waren ihre Antworten.

Sie sind Jüdin, Kommunistin und noch so vieles anderes. Als was fühlen Sie sich am ehesten?

Alles ist ein Teil von mir. Ich wurde in Bristol, wohin ich während des Krieges geflohen war, als Kindergärtnerin und Säuglingspflegerin ausgebildet. Die kleinen Kinder waren immer meine große Liebe. Als ich 1944 nach London zog, kam ich durch eine Tante mit dem Freien Deutschen Kulturbund in Verbindung, das war eine antifaschistische Organisation, die von Emigranten in England, Schweden und der Schweiz gegründet worden war. Mit 22 trat ich dann in die KPD ein.

Sie kamen 1938 mit einem Kindertransport nach Großbritannien ...

Meine Eltern haben alles versucht, uns beiden Kindern eine Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen. Mein Vater war 1938 schon das erste Mal verhaftet worden und nach Sachsenhausen gekommen. Die Eltern haben gewusst, was uns bevorstehen könnte. Sie taten alles, um meine ältere Schwester und mich zu retten. An sich selbst haben sie da nicht gedacht. Noch 1938 bin ich in so eine Hachschara, ein Vorbereitungslager für Palästina, gekommen. In der Jüdischen Gemeinde meldeten sie uns in der Abteilung Kinderauswanderung an, und das hat tatsächlich geklappt: Meine ältere Schwester Eva kam im Juli 1939 nach England und ich folgte ihr im August 1939 mit dem Kindertransport nach Sheffield. Das hat uns gerettet.

Warum sind Sie später nach Berlin zurückgekehrt? Haben Sie den Deutschen Demokratie zugetraut?

Ich hab ja die Deutschen nicht so gekannt. 1947 sind einige von uns nach Deutschland zurückgegangen. Auch ich war politisiert und überzeugt, dass ich hier gebraucht werde. Ich sah meine Aufgabe darin, das antifaschistische Leben in Deutschland mit aufzubauen. Ich bin bewusst in den Ostsektor gegangen, denn nur da war das möglich.

Haben Sie gehofft, Ihre Eltern wiederzusehen?

Tatsächlich habe ich erst bei meiner Rückkehr erfahren, was mit meinen Eltern passiert ist. Dass sie in Auschwitz ermordet wurden.

Aber Sie blieben in Berlin. Gab es hier jüdisches Leben zu DDR-Zeiten?

Kulturhistorisch hat mich das Judentum schon interessiert, aber persönlich habe ich die Religion nicht ausgelebt. Ich habe mich nie jüdisch gefühlt, eher konfessionslos. Vielleicht habe ich es schon früh abgetan, damit mich die Lästereien nicht erreichen – die habe ich ja als Kind mitbekommen. An der DDR war ich politisch interessiert.

Ist Ihr Mann jüdischen Glaubens?

Nein, das spielte nie eine Rolle. Mein Mann war ein deutscher Soldat, der 1947 aus der englischen Gefangenschaft entlassen wurde. Das hört sich ein bisschen komisch an, aber wir entdeckten uns auf der SED-Parteischule in Kaulsdorf.

Wie waren Ihre Erfahrungen mit den Berlinern?

Ich hatte mich etwas zurückgezogen. Meine Gemeinschaft außerhalb des Berufs war eher in der SED. Da musste ich mich ja keinem erklären. Ich erzähle nicht viel über mich im Allgemeinen, außer wenn ich gefragt werde. Mein Hintergrund ging erst mal niemanden etwas an.

Worin sind Sie aufgegangen?

In meiner Arbeit. Bevor ich mein Studium aufgenommen hatte, arbeitete ich erst mal wieder mit Kindern. Mich faszinierte diese Ursprünglichkeit, Unkompliziertheit, Unbefangenheit. Überhaupt das Wesen kleiner Kinder – wie sie von Natur aus, an der Mutter hingen.

Aber dann haben Sie studiert und ...

Unser Sohn kam zur Welt, 1953. Und 1955 unsere Tochter. Ich bin froh, dass ich sie habe. Längst habe ich auch zwei Enkel. Wir verstehen uns alle gut, einer ist für den anderen da, alle wohnen in Berlin.

... und dann haben Sie etwas Einmaliges aufgebaut.

Ja. Als Musikwissenschaftlerin kannte ich die Volksliedarchive. Und nun arbeitete ich parallel an einem Archiv fürs politische Lied. Das war eine schöne Herausforderung, etwas aufzubauen, was es so noch nie gab. Man staunt, was man an Liedern sammeln kann. Ich suchte im In- und Ausland in Archiven und habe dabei interessante Menschen kennengelernt. Veteranen der Arbeiterbewegung und Gewerkschafter trugen mir ihre Lieder vor, die sie zum Beispiel bei Streiks sangen. In Finnland, Italien und Russland habe ich auch Kollegen kennengelernt. Dann fingen wir an, Tagungen zu organisieren. Pete Seeger, der US-amerikanische Sänger, war auch dabei. Wir waren international.

1985 sind Sie in Rente gegangen, aber nicht in den Ruhestand. Was trieb Sie an, noch mit neuen Projekten und Forschungen zu beginnen?

Ich bin ein Mensch, der immer wirksam werden, etwas in Bewegung setzen muss. Da bekam ich das Buch „Juden in Neukölln“ in die Hand und dachte, Menschenskind, das könntest Du eigentlich auch machen. Für Pankow. Ich hatte so einen Forscherdrang. Ich konnte keinesfalls zu Hause auf der Couch rumsitzen. Später wurde der Bund der Antifaschisten gegründet, da habe ich mich dann mit eingetaktet.

Sie kamen also durch die Neuköllner darauf, die Schicksale jüdischer Familien in Pankow zu erforschen?

Ja, so war es. Wir haben uns viel Arbeit gemacht. Wir waren sechzehn Leute: Historiker, Ortschronisten, Publizisten, ein Psychologe und eine Kulturwissenschaftlerin. Menschen, bei denen die Herkunft keine Rolle spielte. Das war ein schönes Gefühl. Ohne Internet, gingen wir in Zeitungsarchive und Bibliotheken, telefonierten viel und forschten jedem einzelnen Namen nach, den wir finden konnten.

Sie haben eine Liste mit jüdischen Pankowern zusammengestellt. Wie verhielten sich die Zahlen vor und nach der Pogromnacht 1938?

Davor lebten 2097 Juden hier, danach noch 1080.

Wie viele haben die Nazizeit überhaupt überlebt?

Etwas mehr als 600.

Ist bekannt, wie vielen Verfolgten durch Berliner geholfen wurde?

Genaue Zahlen kenne ich nicht. Ich habe von der Familie Rothholz in Buchholz gehört, von der Familie Möhring, von katholischen oder evangelischen Gemeinden, die schlicht aus humanitären Gründen geholfen haben. All diejenigen, von deren Engagement wir erfuhren, haben wir im Buch „Jüdische Lebenswege“ dokumentiert.

2012 bekamen Sie das Bundesverdienstkreuz. Was bedeutet es Ihnen?

Das ist mehr so eine offizielle Sache. Die steckt man weg, da bildet man sich nichts drauf ein. Ich weiß schon, was ich gemacht habe. Wenn es allgemein anerkannt wird, dann freue ich mich natürlich. Mir ist aber vor allem wichtig, dass andere Leute zufrieden sind, mit der Arbeit, die ich gemacht habe. Dass etwas einen Sinn hat. Ich wurde auch noch Ehrenvorsitzende beim Bund der Antifaschisten Berlin und Ehrenvorsitzende des Vereins vom Jüdischen Waisenhaus in Pankow.

Sie haben die ehemaligen Kinder des Jüdischen Waisenhauses aus aller Welt 2001 wieder zusammengeführt. Von woher kamen die Menschen?

Die wollten ja nie wieder nach Deutschland. Wir haben viel mit ihnen korrespondiert und einige haben es gewagt. Schließlich kamen 25 mit Familienmitgliedern, aus Israel, USA, Argentinien und England.

Was heißt es heute, jüdisch zu sein?

Das ist so einfach nicht zu beantworten. Es gibt interessante Bücher zu diesem Thema von Shlomo Sand, er ist ein israelischer Historiker.

Sie haben einiges in Pankow verändert. Waren die Erinnerungstafeln an Wohnhäusern auch Ihre Idee?

Ja. Die Tafeln wurden angebracht, um an die Bewohner zu erinnern, die von dort aus deportiert wurden. Eine Tafel brachten wir 2004 in der Florastraße 48 für die Familie Jany an, deren acht Mitglieder 1943 verhaftet und nach Auschwitz gebracht wurden. Dann kam die Mühlenstraße 77, da war einst das jüdische Gemeindehaus. Von dort aus wurden mehr als 20 Menschen deportiert. Und zum Beispiel noch die Platanenstraße 144. Oder die Breite Straße 23. Dort leben noch Nachbarn, die miterlebt haben, wie der Optiker Benno Falk einst von den Nazis aus seinem Laden rausgezerrt und blutig geschlagen wurde.

Waren die Anwohner immer mit den Gedenktafeln, die an ihrem Haus angebracht wurden, einverstanden?

Ja. Nur in der Parkstraße 20 hat es etwas länger gedauert, bis wir das Einverständnis der Mieter hatten.

Und wer hat die Tafeln bezahlt?

Die waren teuer, es sind ja Kupfertafeln. Teils hat sie der Waisenhaus-Verein, teils die Abteilung Erinnerungskultur vom Bezirk finanziert. Jetzt nimmt man Stolpersteine. Ist ja auch einfacher.

Ihre Tafeln gab es eher. Sehen Sie die Stolpersteine als Konkurrenz?

Aber, nein. Das ist eben nur eine andere Art.

Ihre Eltern bekommen demnächst Stolpersteine. Wann und wo?

Das ist am 27. August in der Rosenheimer Straße 26 in Schöneberg.

Wie wichtig ist es Ihrer Familie?

Meine Eltern haben ja kein Grab. Davon hörte jemand aus Pankow und hat sich daraufhin für die Stolpersteine eingesetzt. Ich meine, niemand kennt das Ehepaar Rackwitz. Es ist ambivalent. Wie kann jemand unvergessen bleiben, den man zuvor nicht kannte. Aber ich denke auch: Warum eigentlich nicht? Meine Kinder werde ich noch informieren. Meine Schwester, die in England lebt, ist 91 und körperlich nicht mehr in der Lage zu kommen.

Können Sie sich vorstellen, dass sich Geschichte noch einmal wiederholt?

Man ist achtsam geworden. Und doch, es gibt immer Menschen, denen andere egal sind. Man sieht gerade, wie die Flüchtlinge behandelt werden. Mir hat die Hilfsbereitschaft einer alleinstehenden, an Diabetes erkrankten Engländerin das Leben gerettet. Damals gab es Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder aus Deutschland. Warum kann man heute nicht syrische Kinder nach Deutschland retten? Dafür setze ich mich ein.

Hatten Sie einen Wunsch, kürzlich an Ihrem 90. Geburtstag?

Dass ich so lange wie möglich mit meinem Mann zusammen lebe. Er ist jetzt 96.

Wie empfinden Sie Berlin heute?

Ich fühle mich hier wohl. Nach England wollte ich nicht zurück. Wir haben in der DDR sicher vieles nicht so gemacht, wie man es hätte machen können. Aber ich hatte nie den Wunsch, woanders zu leben.

Ist Berlin Ihre Heimat?

Das Wort benutze ich nicht. Berlin ist die Stadt, in der ich lebe.

Das Interview führte Abini Zöllner.