„Irrsinnige Bepollerung“: Wie am Chamissoplatz der Verkehr beruhigt werden soll

Im Bergmannkiez streitet man um Verkehrsberuhigungsmaßnahmen. Rund um den Chamissoplatz stehen dank der Grünen mehr als 70 Poller. Jetzt wehren sich Bürger.

Die Umbaumaßnahmen am Chamissoplatz sind Teil des Modellprojekts Bergmannkiez. 
Die Umbaumaßnahmen am Chamissoplatz sind Teil des Modellprojekts Bergmannkiez. Roshanak Amini für die Berliner Zeitung am Wochenende

Harald Schmeißer lehnt an einem der Poller, die ihm momentan die Laune vermiesen. „Ein grüner Bezirk, der den ältesten Ökomarkt Berlins verdrängt“, sagt er, „das ist doch absurd.“ Ein Wochenmarkt in Kreuzberg, 1994 gegründet durch die Initiative von Anwohnerinnen und Anwohnern, mit ökologisch produzierten Produkten: Das sei doch eigentlich prototypisches grünes Parteiprogramm.

Jetzt fürchtet der Betreiber des Ökomarkts um diesen und der Grund ist ein Programm zur Verkehrsberuhigung des Kiezes, über das in der Nachbarschaft gerade alle diskutieren.

Rund 70 rot-weiß gestreifte Poller ragen in den Straßen um den Chamissoplatz aus dem historischen Berliner Kopfsteinpflaster der Kaiserzeit. Im vergangenen Sommer wurde diese umstrittene Baumaßnahme des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg umgesetzt. Die Arndtstraße und die Willibald-Alexis-Straße sind jetzt Sackgassen, an den Pollern und Abstellplätzen für Fahrräder kommen Autos nicht vorbei. Die Intention der Maßnahmen auf den ersten Blick: Der Autoverkehr soll reduziert, die Fortbewegung auf dem Fahrrad und zu Fuß gefördert und sicherer gemacht werden.

Betreiber Harald Schmeißer fürchtet um die Zukunft von Berlins ältestem Ökomarkt.
Betreiber Harald Schmeißer fürchtet um die Zukunft von Berlins ältestem Ökomarkt.Markus Wächter/Berliner Zeitung

All das sind wichtige und sehr zeitgemäße Wünsche für ein Wohngebiet mitten in der Stadt. Das empfinden auch die meisten Menschen so, die hier wohnen. Die Berliner Zeitung hat sich mit Anwohnerinnen und Anwohnern getroffen, mit Denkmalschützern und Bezirksvertretern ausgetauscht. Eins wird klar: Die Kommunikation zwischen den einzelnen Beteiligten lief nicht immer reibungslos  - und am Ende könnte einer der schönsten Plätze Berlins im Herzen Kreuzbergs seinen Charakter verlieren.

Harald Schmeißer schlägt für das Gespräch mit der Berliner Zeitung das Café Marameo vor, hier ist er oft am Sonnabend, wenn der Markt schon abgebaut ist. Groß und kräftig, die langen grauen Haare in einem Zopf gebunden, auch bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mit Sandalen und Socken an den Füßen, wirkt der 55-Jährige passend an diesem Ort, passend als Betreiber von Berlins ältestem Ökomarkt. Er kommt vorbereitet, hat ein Tablet mit und zeigt genau auf, wie der Markt durch die Poller und Fahrradstellplätze zerstückelt wird.

Schmeißer deutet auf eine von ihm selbst erstellte Grafik, abgebildet ist das Gebiet um den Chamissoplatz aus der Vogelperspektive, einige Zonen sind rot, andere grün. Er zeigt, wo die Marktstände vor der Umbaumaßnahme aufgebaut waren, eine lange grüne Zone entlang der östlichen Seite des Platzes, direkt vor dem Café Marameo. Hier lag die „lebhafte Mitte des Markts“, sagt er. Jetzt, wo die grüne Zone durchbrochen wird durch rote Zonen an den Ecken des Platzes und direkt vor dem Café, gebe es diese Mitte nicht mehr. „So parzelliert wie jetzt kann ein Wochenmarkt nicht funktionieren“, sagt Schmeißer.

Die Umbaumaßnahmen am Chamissoplatz sind Teil des Modellprojekts Bergmannkiez. Der soll nach der Bezirksverwaltung zum „Kiez der Zukunft“ werden. Die Maßnahmen sollen den Verkehr im gesamten Kiez beruhigen, so die Bezirksstadträtin für Verkehr und Umwelt, Annika Gerold auf der Website des Bezirksamts. Die Anwohnerinnen und Anwohner seien vorher in einem „umfassenden Beteiligungsverfahren“ zu den geplanten Maßnahmen im Bergmannkiez gefragt worden.

Das Wohnquartier in den umliegenden Straßen des  Chamissoplatzes gilt als eine der schönsten Gegenden von Berlin.
Das Wohnquartier in den umliegenden Straßen des Chamissoplatzes gilt als eine der schönsten Gegenden von Berlin.Jürgen Ritter/imago

Die Gegend um den Chamissoplatz sei allerdings nur kurz abgehandelt worden, mit einigen Fragen auf einer Seite. Das sagen die Anwohnerinnen und Anwohner. Karin Dittmar von der Chamisso-Initiative geht auch deshalb gegen die Maßnahmen vor. Durch die Poller sei viel eher „Verkehrsunsicherheit“ entstanden, sagt Dittmar. Viel kleinere Gestaltungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Temposchwellen auf der Fahrbahn hätten völlig ausgereicht, um Autos auszubremsen. So hätte die historische Einzigartigkeit bewahrt werden können. „Aber Frau Gerold ist Argumenten ja nicht zugänglich.“

Der Platz und das umliegende Quartier fallen unter den Denkmalschutz. Die Untere Denkmalschutzbehörden (UD) des Bezirks ist hier zuständig und hätte sich mit dem Landesdenkmalamt (LDA) für die Baumaßnahmen abstimmen müssen. Das sei in diesem Fall aber nicht geschehen, kritisiert das LDA und spricht in einem Schreiben an die Anwohnerinnen und Anwohner von einer „entstellenden Umbaumaßnahme“. Die UD Friedrichshain-Kreuzberg äußerte sich gegenüber der Berliner Zeitung hierzu bisher nicht.

Wie das LDA begründet auch Karin Dittmar von der Chamisso-Initiative ihre Kritik insbesondere mit der Frage des Denkmalschutzes. Die Maßnahmen des Straßen- und Grünflächenamts nennt sie eine „irrsinnige Bepollerung“, die geschichtsträchtige Schönheit des Platzes werde zerstört. Der Chamissoplatz sei als „gründerzeitliches Bauensemble“ von historischer Bedeutung, sagt Dittmar. Die Maßnahmen des Bezirksamts ärgern sie: „Hier geht ein Stück Lebensgefühl verloren.“

Vielleicht ist an dieser Stelle noch einmal ein frischer Blick auf den Platz genau richtig: Selbst an diesem kalten Februartag leuchten die Gründerzeitfassaden, kein Wunder, dass Regisseure wie Werner Herzog hier das alte Berlin für Kinoleinwände in Szene setzten. Ein großer Spielplatz, das Kopfsteinpflaster, das runde grüne Toilettenhäuschen aus dem späten 19. Jahrhundert und die noch erhaltenen Gaslaternen – das alles wirkt wunderbar aus der Zeit gefallen. Und dann diese gestreiften Poller, die zum Teil das Licht grell reflektieren.

Wenn aus „Straßenberuhigung“ Schikane wird: Eine Fahrradfahrerin fährt am Chamissoplatz Slalom.
Wenn aus „Straßenberuhigung“ Schikane wird: Eine Fahrradfahrerin fährt am Chamissoplatz Slalom.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Für das LDA bestimme der Chamissoplatz „noch heute in besonderer Weise die Wohn- und Lebensqualität des Viertels“. Der Kiez zähle zu den besterhaltenen kaiserzeitlichen Wohnquartieren in Berlin. „Der Platz vermittelt noch heute dem Betrachter einen Eindruck vom Berlin vor mehr als 100 Jahren.“ Es gehe darum, eine Lösung zu finden, die auf das historische Erscheinungsbild des Platzes Rücksicht nehme. Das Bezirksamt arbeite jetzt auch an einer solchen Lösung. Immerhin: Die beiden Behörden stimmen sich jetzt ab. Es könnte sich also noch einmal etwas ändern am Platz.

Warum hat das Bezirksamt auf Beschwerden der Anwohnerinnen und Anwohner nach deren Angaben nicht reagiert? Ein Sprecher antwortet der Berliner Zeitung: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Anfragen und Beschwerden direkt an das Straßen- und Grünflächenamt aufgrund der personellen Situation nicht in Gänze beantwortet werden konnten.“ Die Anwohnerinnen und Anwohner seien aber in Form von Aushängen über die Baumaßnahmen informiert worden. Der Sprecher meint die Aushänge, auf denen in Großbuchstaben pink auf weiß dieser Satz steht: „Wir bauen für Sie!“ Doch manche hier am Platz sagen, die Probleme begannen erst, als die Poller kamen.