Kanutour auf der Oder: Allein durch unberührte Auen
Mescherin - Da liegt sie, die Vergangenheit: dunkel, wuchtig und bedrohlich. Von weitem ist anfangs nicht mal zu erahnen, was das dort am Ufer überhaupt ist. Dieses große schwarze Etwas. Langsam gleiten unsere Kanus weiter, und schnell wird klar, dass dort ein alter Oderkahn gestrandet ist und nun halb versunken im Schilf liegt.
Es ist überraschend, dass in dieser abgeschiedenen Idylle ein solch riesiges Zeugnis der Zivilisation herumliegt, denn die Kanu-Tour führt durch ein Naturschutzgebiet. „Es sind sogar zwei Schiffe, die dort kurz vor Kriegsende gesunken sind“, sagt Kanuführerin Frauke Bennett.
Fest in der Hand der Natur
Ihre Tour geht durch das Untere Odertal – die entlegenste Ecke im an sich schon dünn besiedelten Winkel von Brandenburg. Ganz weit im Norden und ganz weit im Osten. Der Startpunkt der Tour, das uckermärkische Grenzdorf Mescherin, zählt nicht mal 600 Einwohner. Hier regiert die Natur. Schöner kann in Brandenburg kaum gepaddelt werden, ungestörter schon gar nicht. „Die Oder ist zwar der viertlängste deutsche Strom“, sagt Frauke Bennett, „aber auch der einsamste.“
Die Tour, die durch ein etwa vier Kilometer breites Delta führt, das von vielen Fließen durchzogen ist, geht auch hinüber auf die polnische Seite der Oder. „Dieses Gebiet ist völlig menschenverlassen“, sagt die studierte Geografin. „Dort wird seit dem Krieg keine Wiese mehr gemäht, keine Landwirtschaft mehr betrieben. Unberührte Natur, alles wurde den Pflanzen und Tieren überlassen.“
Bevor die Kanus in diese Wildnis abbiegen, erzählt die 45-Jährige die Geschichte der beiden verrosteten Wracks, die da bei Mescherin am Ufer liegen. „Im Februar 1945 wurden die Schiffe nach Swinemünde beordert, um das deutsche U-Boot-Archiv vor den anrückenden Sowjets zu retten.“ Dann wurden die Kähne manövrierunfähig geschossen und strandeten. „So kam das Archiv erst für viele Jahre nach Moskau, nun liegt es in Peenemünde.“
Kaum hat Frauke Bennett ihre Erzählung beendet, zeigt sie auf das, worum es bei dieser Tour gehen soll. „Da, eine Stockente, ein Erpel im bunten Prachtkleid, und dort, ein Blesshuhn.“ Die beiden Kanus gleiten durch ein altes Deichtor. Der Beton ist dicht bemoost, die rostigen Tore mit Spinnenweben überzogen. Seit die deutsch-polnische Grenze 1945 an die Oder verlegt wurde, ist das Tor nicht mehr geschlossen worden. Auf der anderen Seite angekommen, sagt Frauke Bennett: „Herzlich willkommen in Polen.“
Ein Frosch antwortet: quakquak. Dann macht noch einer mit, schließlich fallen immer mehr ein. Sie lärmen so laut, dass sich die Menschen in den Kanus nicht mehr unterhalten können. „Was für ein selten schönes Begrüßungskonzert“, sagt die gebürtige Heilbronnerin, die sechs Jahre lang Studienreisen in Südafrika betreute, dann zufällig die Uckermark entdeckte und dort seit fünf Jahren als zertifizierte Kanu-, Natur-, und Landschaftsführerin arbeitet. Es gibt sechs Kanuführer für den Nationalpark Unteres Odertal, doch Frauke Bennett paddelt als einzige auch nach Polen.
Sie steuert das Kanu vorbei an den endlosen Teppichen gelber Seerosen. Über den bayrisch-blauen Himmel schieben sich schöne, dicke weiße Wolkenbatzen und machen die Sonne erträglich. Unterwegs erklärt sie, dass dieses Gebiet ein riesiges Überflutungsmoor ist und wie ein solches Moor funktioniert. Sie erzählt, wie der Schnee das vier Meter hohe und vertrocknete Schilf im Winter umknickt und wie im Frühjahr Neues sprießt. Sie weiß auch, dass der Vogel, dessen Gesang wie eine ratternde Nähmaschine klingt, ein Rohrschwirl ist. Und sie kennt auch eine Geschichte zu den vielen lila Blüten am Ufer. „Die heißen nicht umsonst Beinwell. Die Wurzeln dieser Heilpflanze wurden früher zermatscht und zur besseren Heilung auf Knochenbrüche aufgetragen.“
Zwölf Kilometer in fünf Stunden
Natürlich darf jeder auch allein durch dieses Delta paddeln, aber das ist durchaus gefährlich. „Manche Fließe wuchern zu oder versanden“, erzählt Frauke Bennett, die auf ihren Touren immer mal wieder Paddler „rettet“, die sich völlig verfahren haben.
Außerdem würde das Alleinpaddeln nur halb so viel Spaß machen und wäre nur ein Viertel so interessant wie eine Tour mit Frauke Bennett, die jeden Seeadler und jeden Laichplatz der Frösche kennt, die die Tiere hier nicht stören will und deshalb ihr Handy mit dem Gesang einer Grille klingeln lässt.
Viele würden auch nicht erkennen, dass die großen Holzhaufen am Ufer Biberburgen sind, und welche davon noch bewohnt sind. Die meisten wüssten wohl auch nicht, dass diese türkisblauen Libellen auch Azurjungfern genannt werden und dass hier überall Wasserminze wächst und seltene Kuckuckslichtnelken.
Nach einem Picknick im polnischen Gryfino, nach fünf Stunden und zwölf Kilometern Paddelei, landet die kleine Expedition wieder in Mescherin. Aussteigen, Rücken strecken und schnell die Boote putzen. Dann auf den weichen Polstern vor dem Restaurant niederlassen, knusprigen Zander essen, zurücklehnen und den Wolken bei Überflug zuschauen. Dazu ein schönes großes Bier.
Land des Wassers: In Brandenburg gibt es etwa 3 000 Seen und 33 000 Fluss-kilometer. In unserer Serie stellen wir die schönsten Reviere und die besten Bewegungsarten auf dem Wasser vor.