Deutschland spart Gas, Berlin nicht: „Kein abweichendes Verbrauchsverhalten messbar“
Bundesweit gibt es 2500 Unternehmen, die von der Bundesnetzagentur im Gasnotfall abgeschaltet werden können. Auch 48 Berliner Firmen stehen auf der Liste.

Was Gas für Berlin bedeutet, kann man bei der Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg bis auf die Kilowattstunde genau beziffern: 35.941.726.827 Kilowattstunden Erdgas wurden im vergangenen Jahr durch das 7000 Kilometer lange Berliner Gasnetz an die Verbraucher verteilt. Rund 3,5 Milliarden Kubikmeter, im Winter freilich mehr als im Sommer, im Mittel 6700 Kubikmeter in jeder Minute. Gas ist lebenswichtig.
Knapp die Hälfte seines Energiebedarfs deckt Berlin mit Erdgas. 37 Prozent der Berliner Wohnungen werden mit Gas beheizt. 43 Prozent bekommen Fernwärme, die wiederum vor allem mit Gas erzeugt wird. Allein Vattenfall benötigte im vergangenen Jahr für seine sechs Gaskraftwerke etwa ein Drittel des gesamten Gasbedarfs in der Stadt, um Strom und Wärme für die Berliner zu erzeugen. Aber wie lange steht Gas noch zur Verfügung?
Seit Montag wird die Trasse Nord Stream 1 gewartet. Von russischer Seite sind dafür zehn Tage veranschlagt, doch niemand weiß, ob es tatsächlich eine planmäßige Pause bleibt. Zwar hat Deutschland seine Abhängigkeit von russischem Gas nach Angaben der Bundesregierung in den vergangenen Monaten bereits auf etwa 20 Prozent reduziert, doch wird dieses restliche Fünftel in Deutschland vorerst noch dringend benötigt.
Wird das Gas tatsächlich knapp, werden sogenannte geschützte Kunden weiterhin versorgt. Dazu zählen neben Krankenhäusern, Schulen, Kitas, Polizei und Feuerwehr alle Privathaushalte. Auch Gewerbebetriebe wie Bäcker mit bis zu 1,5 Millionen Kilowattstunden Gasverbrauch im Jahr gehören dazu. Sicher ist dagegen, dass sich Freizeiteinrichtungen als Erste auf Abschaltungen einstellen müssen. Wer im Fall eines Engpasses wie viel Gas bekommt, legt die Bundesnetzagentur fest.
Pro Stunde mehr Gas als ein Singlehaushalt im Jahr
Dabei wird entscheidend sein, wie viel Gas im Notfall wie schnell eingespart werden muss. Geht es um große Mengen, wird die Bundesagentur gezwungen sein, Industrieverbraucher vom Netz zu nehmen. Bereits im Mai hatte die Behörde dafür bundesweit jene Unternehmen ermittelt, die pro Stunde etwa so viel Gas benötigen wie ein Singlehaushalt in einem Jahr. Es entstand eine Liste mit 2500 Betrieben. Auch 48 Berliner Großabnehmer sind darin zu finden.
Mindestens 1000 Kubikmeter Gas werden dort stündlich verfeuert. Die Großabnehmer gelten als „nicht geschützte Kunden“. Laut Auskunft der Netzgesellschaft Berlin-Brandenburg, die die Verbrauchsdaten der Bundesnetzagentur gemeldet hat, gebe es für den Fall der Fälle jedoch keine feste Abschaltreihenfolge. Wer letztlich abgeschaltet werde, so NBB-Sprecher Andreas Wendt, sei von verschiedenen dynamischen Einflussfaktoren abhängig. „Daraus kann sich täglich eine neue Priorität ergeben“, sagt Wendt. Zu den Unternehmen, die in Berlin mit den höchsten Gasverbrauch haben, zählten unter anderen ein Pharmaunternehmen, ein Kaffeeproduzent und eine Metallbaufirma. Namen der nicht geschützten Kunden in Berlin nennt der Sprecher nicht.

In der Berliner Industrie, die tatsächlich etwa ein Fünftel des gesamten Gasbedarfs der Stadt beansprucht und zugleich mehr als 100.000 Arbeitsplätze bietet, hält man sich bedeckt. Konkrete Verbrauchszahlen sind nirgendwo zu erfahren. Wohl aber wird auf Anstrengungen verwiesen, die Abhängigkeit von Erdgas zu reduzieren.
Beim Unternehmen BMW, das das Motorradwerk in Spandau betreibt, heißt es, dass man sich aktiv auf einen möglichen Gasmangel vorbereite. Einsparmöglichkeiten seien der Bundesnetzagentur bereits gemeldet worden. Für einen begrenzten Zeitraum hält man weitere Reduzierungen des Verbrauchs für möglich, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden, so ein Sprecher. Bei Mercedes setzt man eigenen Angaben zufolge auch in Marienfelde darauf, „Gas durch Grünstrom und wenn notwendig auch fossile Energieträger wie Öl“ zu ersetzen.
Das Unternehmen Berlin-Chemie mit Sitz in Adlershof ist das größte der Pharmabranche in der Stadt und Säule der hauptstädtischen Exportwirtschaft. Dass es zu den großen Gasverbrauchern zählt, steht außer Frage. Laut Firmensprecher Alessandro Grua spiele Gas jedoch nur in Teilprozessen der Herstellung von Medikamenten eine Rolle, etwa bei der Dampferzeugung für die Pillenproduktion in Britz. Ein Gasausfall würde nach seinen Worten jedenfalls nicht die gesamte Produktion gefährden. Dennoch werde geprüft, inwieweit die betroffenen Prozesse auf Öl umgestellt werden könnten. Das Unternehmen beschäftigt in der Region 1500 Mitarbeiter.
Überraschend entspannt gibt man sich indes bei Siemens Energy. Denn eigenen Angaben zufolge fertigt Siemens an der Huttenstraße in Moabit zwar Gasturbinen, doch sei dafür kein Gas nötig. „Wir brauchen nur Strom“, sagt Unternehmenssprecherin Claudia Nehring, und der komme für das Werk ausschließlich aus erneuerbaren Quellen.
Während Siemens damit anderen Unternehmen zumindest energetisch voraus ist, schwört die Politik die Nation auf Einsparungen ein. Auch Berlins Wirtschaftssenator Stephan Schwarz (parteilos) hält dies für die richtige Maßnahme. „Alles, was wir jetzt einsparen, hilft uns im Winter“, sagt am Montag Schwarz im RBB und weiß wohl um die Dringlichkeit.
Denn während das Statistische Bundesamt für die ersten fünf Monate des Jahres bundesweit einen Rückgang des Gasverbrauchs um gut 14 Prozent meldete, wurde in der Hauptstadt im ersten Halbjahr mit 17,7 Milliarden Kilowattstunden keinesfalls weniger Gas verbraucht. Temperaturbedingt habe der Verbrauch zwar leicht unterhalb eines langjährigen Normjahres gelegen, sagt Ursula Luchner von der NBB-Mutter Gasag. Aber: „Laut aktuellem Stand ist kein abweichendes Verbrauchsverhalten messbar.“