Kippa-Träger in Prenzlauer Berg attackiert: Angeklagter gesteht Schläge mit Gürtel
Adam Armoush ist ein schüchtern wirkender junger Mann von schmächtiger Statur. Er wird an diesem Dienstag von einem Wachtmeister in den Schwurgerichtssaal 700 des Kriminalgerichts Moabit geführt.
Den größten Saal in diesem Gebäude, in den das Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Tiergarten wegen des großen Andrangs umziehen musste. Armoush, 21 Jahre alt, läuft zu dem Stuhl, den ihm der Richter zuweist. Neben ihm sitzt seine Anwältin.
Armoush ist Zeuge. In einem Verfahren, in dem sich ein zwei Jahre jüngerer Mann wegen Beleidigung und gefährlicher Körperverletzung verantworten muss.
Der Israeli Armoush kam vor drei Jahren nach Deutschland, um Tiermedizin zu studieren. Zunächst in Hannover, dann zog er nach Berlin. Die Stadt, die er für weltoffen, friedlich und entspannt hielt. In der er sich wohl fühlte. Bis zum 17. April dieses Jahres.
Da lebte Armoush gerade einmal einen Monat in Berlin. Und traf auf den Syrer Knaan S. Den Angeklagten, der seit jenem Tag verdächtigt wird, ein brutaler Schläger und Antisemit zu sein.
Ein junger Mann, der offenbar Adam Armoush mit einem Gürtel verprügelte, nur weil dieser eine Kippa, die religiöse jüdische Kopfbedeckung, trug. Ob das wirklich so war, soll dieser Prozess klären.
Ein lauer Abend
Vermutlich hat es sich Adam Armoush nicht träumen lassen, dass er einmal vor Gericht aussagen muss. Dass ihm einmal so viele Menschen ihre Aufmerksamkeit schenken werden. Ihm, dem Israeli, der aus einer arabischen Familie stammt und der in seinem Facebook-Profil angibt, Atheist zu sein – nicht Jude, nicht Muslim, nicht Katholik.
Vor dem 21-Jährigen sitzen der Richter und die beiden Schöffen, hinter ihm hören etwa 50 Journalisten und noch einmal so viele Zuschauer, was der Student zu erzählen hat.
Der 17. April war ein Dienstag, ein lauer Frühlingsabend lockte die Menschen in Prenzlauer Berg in die Straßencafés. Armoush und sein Kumpel, ein Deutsch-Marokkaner, wollten von einem Freund ein Sofa abholen. Sie setzten eine Kippa auf und verließen die Wohnung.
Die Kippa war ein Geschenk
Armoush ist kein Jude, ein Freund in Israel hatte ihm die jeansblaue Kopfbedeckung mit dem roten Emblem kurz zuvor geschenkt, aber Armoush auch gewarnt, damit nicht durch deutsche Straßen zu laufen. „Ich habe meinen Freund damals ausgelacht“, sagt der Student. Er sei sich ganz sicher gewesen, dass es in Deutschland hundertprozentig sicher sei. „Vor allem hier in Berlin.“
Außerdem mag er die Kippa, er fühlt sich wohl damit. „Ich bin unter Juden aufgewachsen. 99 Prozent meiner Freunde in Israel sind jüdisch“, erklärt er. Und er habe die Kippa auch wegen des Holocaustgedenktages aufgesetzt, der kurz zuvor begangen worden sei.
Adam Armoush und sein Freund liefen zur Straßenbahn-Haltestelle, vorbei an vollen Straßencafés und flanierenden Paaren. Gegen 20.20 Uhr, die jungen Männer waren noch keine drei Minuten unterwegs, wurden sie laut Anklage in der Raumerstraße von dem Angeklagten und zwei weiteren Männern antisemitisch beschimpft.
Schläge mit dem Gürtel
Auslöser sollen die Kippot gewesen sei. Die Angreifer sollen Armoush und seinen Begleiter als Schlampen, schmutzige Juden und Hurensöhne beschimpft haben. Schließlich soll Knaan S. vom Pöbeln und Beleidigen zum Schlagen übergegangen sein.
Der Angeklagte zog, so sagt es der Oberstaatsanwalt Matthias Fenner, seinen Gürtel aus der Hose, rannte auf Armoush los und drosch auf den jungen Mann ein.
Mindestens zehnmal, wobei Knaan S. mehrfach „Yahudi“ schrie – das arabische Wort für Jude. Später soll Knaan S. versucht haben, den Studenten mit einer Glasflasche zu schlagen.
Während Armoushs Freund vor dem prügelnden Knaan S. weglief, blieb der Israeli stehen. „Ich hatte Angst, aber ich hatte doch nichts getan. Warum also sollte ich weglaufen“, erklärt er. Der Student zog stattdessen sein Handy und filmte den Angriff. Er hoffte, so den Angreifer abschrecken zu können. Eine trügerische Hoffnung.
Das 47 Sekunden lange Video wurde nach dem Vorfall von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) veröffentlicht, die seit 2015 antisemitische Vorfälle in Berlin publik macht. Vorfälle, deren Zahl seitdem Jahr für Jahr steigt. Zählte RIAS im Jahr 2016 insgesamt 470 antisemitische Vorfälle in Berlin, so waren es im vergangenen Jahr bereits 947.
Der Handyfilm fand seine weltweite Verbreitung, der Angriff schaffte es so in die internationalen Medien. Er befeuerte auch die Debatte um den anwachsenden Antisemitismus in Deutschland.
Die Veröffentlichung des Videos zeige das Positive im Negativen, sagt Mike Samuel Delberg von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Nämlich, dass solche Vorfälle nicht unter den Teppich gekehrt werden.
Delberg sitzt unter den Zuschauern – mit Kippa. Aus Solidarität, wie er sagt. Denn diejenigen, die die jüdische Kopfbedeckung trügen, müssten beschützt werden. „Man kann in Berlin noch Kippa tragen, man darf aber auch nicht blauäugig sein und muss wissen, dass das nicht immer problemlos geht“, sagt er. Denn die Kippa gehöre noch nicht zur Normalität in Berlin.
Im Gerichtssaal wird das von Armoush gedrehte Video an diesem ersten Prozesstag mehrfach gezeigt – als Beweisstück. Es zeigt den angeklagten Knaan S., der mit wutverzerrtem Gesicht auf den Studenten eindrischt.
Der Zuschauer sieht das Video aus der Opferperspektive. Er sieht den Hass im Gesicht des jungen Mannes, der den Gürtel wie eine Peitsche schwingt und mit jedem kraftvollen Hieb „Yahudi“ schreit.
Die Metallschnalle des Gürtels trifft Armoush an der Lippe, an der Hüfte, am Bein. Der Student erklärt später, er gehe davon aus, dass er wegen seiner Kippa geschlagen worden sei. „Eine andere Erklärung habe ich nicht.“
Angeklagter sitzt in Untersuchungshaft
Die versucht Knaan S. zu liefern. Der Angeklagte ist fast ebenso schmächtig wie sein Opfer. Er ist Palästinenser mit syrischem Pass. Im Jahr 2015 ist er mit seinem Bruder aus Syrien nach Deutschland geflohen. Die Brüder verloren sich bei ihrer Flucht aus den Augen, sie trafen sich erst im Erstaufnahmelager im brandenburgischen Eisenhüttenstadt wieder.
Knaan S. ging irgendwann nach Berlin, wo Tante und Cousin wohnten. Er lebte teilweise auf der Straße, deshalb sitzt der junge Mann ohne festen Wohnsitz seit seiner Festnahme in Untersuchungshaft.
Er hatte sich zwei Tage nach der Tat, als das Video in den sozialen Netzwerken tausendfach geteilt worden war, der Polizei gestellt.
„Ich hasse weder die Juden noch die Christen"
Knaan S. hat gleich zu Beginn des Prozesses die Schläge mit dem Gürtel zugegeben. Er entschuldigt sich auch dafür bei seinem Opfer. Doch er leugnet, ein Antisemit zu sein. „Ich hasse weder die Juden noch die Christen noch sonst irgendwas“, erklärt er. Er habe in einem Verein in Britz Fußball gespielt. Auch mit Juden.
Der Angeklagte mit dem jungenhaften Gesicht bestreitet, dass er nur wegen der Kippa auf Adam Armoush einschlug. Er habe die Kopfbedeckung schließlich erst vor seinem letzten Gürtelhieb bemerkt. Knaan S. gibt zu, dass er das Wort „Yahudi“ als Schimpfwort für Juden betrachtet.
Er habe sich im Recht gefühlt, als er den Gürtel zog. Schließlich sei er von dem anderen angegangen worden. „Der hat mich zuerst böse beschimpft, der hat meine Mutter beleidigt“, sagt er. Da sei er wütend geworden.
Angeklagter stand während der Tat unter Drogen
Dann beschreibt er den Abend aus seiner Sicht, die ganz anders ist als die von Adam Armoush. Er habe damals seinem Cousin beim Umzug von der Flüchtlingsunterkunft in die Wohnung der Tante in Prenzlauer Berg geholfen.
Ein Bekannter des Cousins war noch dabei. Sie schleppten Reisetaschen, zogen Rollkoffer. Knaan S. gibt an, dass er zuvor gekifft und Ecstasy genommen habe. Und nach 20 Minuten nicht mehr habe weiter durch Prenzlauer Berg laufen wollen. Müde sei er gewesen.
„Ich ficke deine Mutter. Ich verfluche deinen Juden“, habe er dem Cousin zugerufen. Aus Spaß, versichert er. Mit diesen Worten fluche nun einmal ein Araber.
Von der anderen Straßenseite will Knaan S. plötzlich die Worte Hurensohn und Sohn einer Schlampe gehört habe. Der Angeklagte bezog die Schimpfwörter nach eigenen Worten auf sich. Deswegen sei er hinüber gerannt. Deswegen habe er den Gürtel gezogen. Deswegen habe er den Studenten gefragt, warum er ihn beschimpfe. Deswegen habe er zugeschlagen, bis sein Cousin ihn weggezogen habe.
Und wirklich stammen die ersten, schlecht verständlichen Worte, die auf dem Video des Israeli zu hören sind, von Knaan S. „Warum beschimpfst du uns?“, fragt er auf Arabisch, bevor er immer wieder zuschlägt. Die Frage hat offenbar auch Adam Armoush bis zu diesem Prozesstag noch nicht wahrgenommen. Da behauptet er jedenfalls. „Ich kann dazu nur sagten, dass ich kein Wort zu dem Angeklagten gesagt habe, bevor er auf unsere Straßenseite kam“, versichert er.
Eine Zeugin beobachtete die Szene
Es gibt in diesem Verfahren zwei Zeuginnen, die damals eingriffen. Eine davon ist Janina L., 44, Werbefachfrau. Sie saß zur Tatzeit im Garten eines Restaurants. Sie erzählt, dass ihr die beiden Jungs mit Kippot auffielen.
Dann sah sie auf der anderen Straßenseite drei arabisch aussehende Männer und hörte ein arabisches Wort, das sie kannte: Sharmuta – Schlampe.
Die seelischen Wunden
„Es war für mich völlig klar, dass die Kippa-Träger gemeint waren“, erzählt die Frau im Zeugenstand. Die Jungs mit Kippa seien schneller gegangen, als hätten sie sich einem aufkommenden Konflikt entziehen wollen.
Das Pöbeln von der anderen Straßenseite sei jedoch lauter, aggressiver geworden. Kurz darauf hörte Janina L. einen Tumult in der Raumerstraße in arabischer Sprache. Sie sprang auf, kam den Kippa-Trägern zu Hilfe, drohte mit der Polizei.
Den arabisch aussehenden Männern habe sie einen politischen Vortrag halten wollen, erzählt sie. „Dass so etwas hier in Deutschland nicht geht.“ Der prügelnde Mann habe ihr ins Gesicht geschrien: „Das ist mir scheißegal. Ich bin Palästinenser.“
Richter Günter Räcke kommt an diesem Tag zu keinem Urteil. Er wird den Prozess am Montag fortsetzen. Knaan S. wird wieder in die Untersuchungshaft gebracht.
Adam Armoush sagt, dass er wird nie wieder Kippa tragen werde, wenn er alleine unterwegs ist. Seit dem Vorfall renne er meist von der Bahn nach Hause.
„Ich fühle mich unsicher“, sagt er. Schwerer als die Verletzungen, die der Gürtel verursacht habe, seien die seelischen Wunden. Vor allem, seit er die Kommentare in den sozialen Netzwerken gelesen habe. Judenfeindliche Gedanken. „Es sind so viele Menschen, die so denken“, sagt er.