Joachimsthal: Wie soll man im ländlichen Raum bei dem Leerstand noch leben?
Joachimsthal war einst eine lebendige Stadt. Mit der Pandemie und dem Krieg aber haben die meisten Läden dichtgemacht. Wird es eine Schlafstadt? Das hängt davon ab, wen man fragt.

Mitten auf einem hügeligen Feld in der Schorfheide, am Ende der Landesstraße 220, sitzen im Schatten einer neongelben Tankstelle drei Männer und warten darauf, dass die Zeit vergeht. Vor ihnen dampft Milchkaffee aus Pappbechern, unter ihren Hintern liegen mitgebrachte Sitzkissen. Ein paar hundert Meter entfernt sieht man die ersten Häuschen der kleinen Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen sind, in der sie gearbeitet haben und nun als Rentner leben: Joachimsthal, ein Ort, in dem es für sie eigentlich keinen Raum mehr gibt.
Einer von ihnen stellt sich als Karl vor. Ein alter Mann mit buschigen Augenbrauen und Händen, so fest und krumm wie Baumwurzeln. Vor zwei Tagen ist er Urgroßvater geworden, erzählt er. Ein Junge, ebenfalls ein Karl. Schon seit dem Jahr 1810 heißen alle Männer in seiner Familie so, und alle waren Maurer. Nur er nicht. „Wollte ich nie“, sagt er knapp. Er war stattdessen der Fahrlehrer von Joachimsthal, 40 Jahre lang. Die beiden anderen nicken gedankenverloren, sie kennen seine Geschichten. Einer zündet sich eine Zigarette an, der andere steht auf und holt den Toilettenschlüssel.
Nach und nach habe alles im Ort geschlossen, erzählen die drei Männer. Der Fleischer, die meisten Gaststätten und Pensionen, die Kneipen und Cafés, vier von fünf Blumenläden, eine Buchhandlung und jüngst der letzte Bäcker – nur wenige Monate vor seinem hundertsten Jubiläum. „Nicht mal einen Schlüpper kannst du hier noch kaufen“, murrt einer der Kameraden von Karl. Geblieben ist ihnen nur diese Bank neben der Tanke.
In den vergangenen Jahren hat in Joachimsthal ein Wandel eingesetzt, wie man ihn an vielen Orten in Deutschland beobachten kann und im Grunde in ganz Europa: Auf dem Land machen die Geschäfte zu und damit die Räume der Begegnung. Dabei lebt etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung in Orten wie diesem. Zukunftsthemen wie Verkehr oder Energiewende werden hier anders diskutiert als in den Großstädten. Doch ihre Stimmen werden seltener gehört.

Die Gründe für den Wandel sind komplex. Da gibt es die großen Supermärkte, Aldi, Rewe, Edeka, mit deren niedrigen Preisen die kleinen Bäckereien und Fleischer nicht mithalten können. Da gibt es Amazon, das selbst den Supermärkten zu schaffen macht, weil heute jeder lieber alles online bestellt. Da war die Pandemie, in der sich kleinere Läden kaum noch halten konnten, und da ist der Fachkräftemangel, dessentwegen die Inhaber kein Personal mehr finden und auch keine Nachfolger. Und nun herrscht schon seit über einem Jahr Krieg in Europa und das Land ächzt unter Energiekrise und Inflation.
Während in Berlin in jedes schließende Restaurant noch eine neue Galerie kommt, bleiben im etwa 60 Kilometer entfernten Joachimsthal die Ladenlokale immer häufiger leer. Wer durch den Ort fährt, der sieht hohe, verschlossene Gartentore, leere Bürgersteige, verstaubte Schaufenster. Der sieht einen Ort, wie es ihn zu Tausenden in Deutschland gibt. Und der fragt sich, was in den Köpfen hinter den Gardinen wohl vor sich geht. Vereinsamen die Menschen hier, ziehen sie sich zurück vor ihre Bildschirme? Werden die Orte auf dem Land allmählich zu Geisterstädten?
Der ehrenamtliche Bürgermeister von Joachimsthal ist sich sicher: „Irgendwann wird das hier eine Schlafstadt sein.“ Es ist ein Abend im März und René Knaak-Reichstein, ein 52-jähriger Mann mit grauem Hulk-Hogan-Schnurrbart und roter Lesebrille, sitzt in der „Krim“, der letzten richtigen Gaststätte im Herzen von Joachimsthal. Gleich um die Ecke befindet sich das Rathaus, daneben die Kirche, die einst vom berühmten preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel geplant wurde, dahinter der Edeka und auch Knaak-Reichsteins Fotoladen, der gleichzeitig die Poststelle ist. Die richtige Post hat vor vier Jahren dichtgemacht.
Eine Schlafstadt? Knaak-Reichsteins Satz klingt etwas seltsam hier, inmitten laut lachender Gäste, die an Holztischen Bier vom Fass trinken und Wildknacker mit Bratkartoffeln essen. Kaum ein Stuhl ist leer geblieben an diesem Abend. Doch der Bürgermeister relativiert: So voll wie heute sei es selten. Er erzählt davon, wie sich die Bevölkerung seiner Dreieinhalbtausend-Einwohner-Stadt allmählich verändere. Viele Menschen aus Berlin wollten hier rausziehen. Weil sie die Ruhe und die Natur des Biosphärenreservats Schorfheide suchten, oder weil sie sich die Mieten in der Hauptstadt nicht mehr leisten könnten, sie also verdrängt würden.

Ein Blick auf das Immobilienportal Immoscout gibt dem Bürgermeister recht: Joachimsthal ist gefragt, Wohnungen sind kaum noch zu bekommen. Derzeit gibt es gerade mal zwei Inserate. Und auf diesem für eine Kleinstadt unvorstellbar heiß gelaufenen Mietmarkt haben es die alteingesessenen Einwohner, die meist von einer kleinen Rente leben, schwer, sagt Knaak-Reichstein, die würden also ebenfalls verdrängt. „Das ist ein regelrechter Verdrängungswettbewerb.“
Doch das Problem mit den Zugezogenen sei, dass sie meist weiter in Berlin arbeiten und dementsprechend auch dort einkaufen, essen und ins Theater gehen würden. Nur zum Schlafen und fürs Wochenende kämen sie her, Geld würden sie also wenig im Ort ausgeben. Und dann seien es auch noch ausgerechnet die „ökologisch Geprägten“, die nach Joachimsthal wollten. Menschen also, die den Leuten vor Ort erstmal erklären würden, sie sollten mehr Fahrrad fahren und ihren Garten wuchern lassen. „Das haben die Menschen hier nicht so gern“, meint der Bürgermeister von der CDU. Ohnehin seien die Leute hier eher reserviert. Man gehöre schließlich noch zu den Uckermärkern, und die seien naturgemäß „ein bisschen gnatzköpfig“.
Je länger man mit Bürgermeister Knaak-Reichstein spricht, desto mehr merkt man ihm den Frust über die Entwicklung seiner Stadt an. Er erzählt vom Bäcker Welck, der kurz vor seinem hundertsten Jubiläum sein Geschäft geschlossen hat. Ständig hätten sich während des Krieges die Mehlpreise geändert, dauernd habe der Bäcker neue Preisschilder schreiben müssen. Der Druck von Edeka, in dem ebenfalls eine Backstube ist, sei immer größer geworden. Und dann habe auch noch einer der Gehilfen aufgehört, der eigentlich der Nachfolger werden sollte. Da habe der Bäcker frustriert einen Schlussstrich gezogen, die Schilder über seinem Geschäft abgebaut und sich hinter seinem hohen Gartentor zurückgezogen.
„Wäre ich nochmal jung, ich würde hier nicht mehr herziehen“, sagt der Bürgermeister über seinen Ort. Und nicht nur das: Er würde gleich ins Ausland auswandern. Auch viele andere von den Alten in der Stadt würden das so sehen, sagt er. Mit den neuen Zugezogenen aus Berlin, mit deren Wildblumenwiesen, Radwegekonzepten und Abwasserfiltern, mit diesen „grünen Träumereien“, die viel kosten, aber die Probleme auf dem Land nicht lösen würden, könnten viele hier nichts anfangen.
Es ist eine konservative Sicht, für einen CDU-Bürgermeister nicht untypisch. Viele, mit denen man auf der Straße im Ort spricht, sehen das so. Und vielleicht ist diese Sicht auch eine, die ein Stück weit zur DNA von Joachimsthal gehört. Immerhin hat schon immer eher ein gutbürgerliches Klientel hier gewohnt.
Gegründet 1604 vom Kurfürsten Joachim Friedrich, erhielt der Ort nur deswegen das Stadtrecht, weil das erste Gymnasium Brandenburgs hier eröffnet wurde. Adlige schickten ihre Knaben hier zur Fürstenschule, mitten in der Natur, fern von den Verführungen der Großstadt. Zu Zeiten der Nationalsozialisten hatte der Reichsmarschall Hermann Göring in der Nähe sein Gut Carinhall und ging in der Schorfheide seiner Jagdleidenschaft nach. Später taten ihm dies die DDR-Granden Erich Honecker und Erich Mielke nach. Heute hat Angela Merkel etwa zehn Minuten entfernt ihr Wochenendhaus und kauft öfter mal beim Edeka in Joachimsthal ein. Kein Wunder, dass die CDU die stärkste Kraft ist, schon viel länger als in Berlin.
Zwei dieser Berliner Neuankömmlinge sind die Pfarrer von Joachimsthal, Daniel und Birgitte Koppehl. Zwei junge Menschen Mitte 30, die vor zwei Jahren mit ihren drei Kindern in das hübsche Pfarrhaus gegenüber der Kirche gezogen sind. Spricht man mit ihnen, bekommt man ein ganz anderes Bild vom Zustand des Ortes.

Es ist der nächste Morgen, und zum ersten Mal seit einigen Tagen zeigt sich ein bisschen Sonne über Joachimsthal. Im Pfarrhaus hat die älteste Tochter gerade Flötenunterricht über Zoom, während ihre Mutter, Birgitte Koppehl, eine Frau mit glattem, hellbraunen Haar und roten Wangen, Wasser aufkocht und Instantkaffee bereitstellt. „Die Menschen hier beschäftigt es schon sehr, dass so viele Läden schließen“, sagt die Pfarrerin. Vor allem, dass der letzte Bäcker geschlossen habe, sei für viele eine Erschütterung gewesen.
Gleichzeitig nimmt die Pfarrerin, ebenso wie ihr Mann Daniel – optisch eher Hipstertyp mit verwuscheltem Haar, rotem Bart und Hornbrille – eine gewisse „Energie“ im Ort wahr. Es könne etwas Neues hier entstehen, meinen die beiden. Sie seien gut aufgenommen worden in Joachimsthal. Auch wenn einige erstmal argwöhnisch geschaut hätten, als sie statt mit dem Auto mit einem elektrischen Lastenfahrrad durch die Gegend fuhren. Ihre Ideen für ein Klimafasten mit den Kindern der Gemeinde aber sei gut angekommen. Viele hier im Ort geben gern freiwillig ihre Zeit für ein gutes Projekt: wie für den Kulturort mit Kino, in dem einmal pro Woche Filme laufen.
Alteingesessene und Zugezogene stehen einander gegenüber
„Vielleicht“, sagt Pfarrer Koppehl, „ändern sich einfach die Gewohnheiten, vielleicht entsteht hier ja mal ein Café oder eine Fahrradwerkstatt, weil sich Leute mit Leidenschaft dafür einsetzen.“ Allerdings sagt er auch, dass so etwas nur von denen getragen werden könne, die finanziell abgesichert seien. Hängt das Schicksal von Orten auf dem Land also letztlich vom Engagement privilegierter Zugezogener ab? So zugespitzt wollen das die beiden Pfarrer nun auch wieder nicht sehen. Doch dass Joachimsthal allmählich Berlinerischer wird, das merken sie schon. Beim Geburtstag ihrer Tochter, so erzählen die beiden, seien mehr Kinder dagewesen, deren Familien aus Berlin zugezogen seien, als Kinder aus Joachimsthal.
Wie an vielen Orten Brandenburgs stehen sich also zwei Gruppen im Ort etwas unbeholfen gegenüber, die mit den Verfallserscheinungen der kleinen Stadt ganz unterschiedlich umgehen. Auf der einen Seite die Alten, deren vertrautes Leben im Trubel des Weltgewühls allmählich untergeht und die darüber in Frust geraten. Ihnen sind noch die Zeiten im Bewusstsein, in denen in Joachimsthal richtiges Stadtleben herrschte, in denen sie tanzen gehen und „bis in die Puppen“ in den Kneipen sitzen konnten. Auf der anderen Seite stehen die Zuzügler, die in Joachimsthal vor allem die Ruhe und die Nähe zur Natur suchen, die hier die Vorzüge gegenüber der Stadt sehen. Die ein ökologisch nachhaltiges Leben führen wollen und hier den Platz finden, das zu tun.
Doch was ist mit den Jüngeren, die in Joachimsthal aufgewachsen und hiergeblieben sind? Wie sehen sie auf die Entwicklung ihrer Heimat?
An einem Freitagabend ist es im Café Casino etwas außerhalb des Stadtkerns rappelvoll. Auf dem Spielfeld des Fichtenstadions nebenan ist gerade das Flutlicht erloschen, die zweite Herrenmannschaft des „FSV Schorfheide Joachimsthal“ hat im Derby gegen den Nachbarort verloren – Kreisklasse. Jetzt läuft Bundesliga auf dem Beamer: Dortmund gegen Leipzig. Es gibt Bockwurst mit Schrippe und Senf, Bier aus Plastikbechern und es wird geraucht. Man müsse drinnen rauchen, erklärt ein Mann in grünem Vereinspulli, draußen herrsche schließlich Waldbrandgefahr. Die Stimmung ist ausgelassen, von einem Niedergang der Kleinstadt ist hier nichts zu spüren.
An einem runden Tisch sitzt Daniel Sommerfeld – 50 Jahre alt, blonde Halbglatze, freundlicher Blick, riesige Hände: der KFZ-Schlosser, neben ihm sein etwa zehnjähriger Sohn. Der Vater spricht mit schnorrendem brandenburgischen Akzent, ein Auge hat er stets auf den Beamer gerichtet. „Wir leben gern in Joachimsthal“, sagt er. Klar, früher habe es hier etliche Kneipen gegeben, zu DDR-Zeiten sicher noch vier oder fünf Stück. Es habe Fleischer gegeben, Handwerker und Bäcker. Er trinkt aus seinem Bier. „Eigentlich schade, dass etwas, das hundert Jahre funktioniert hat, einfach einbricht“, sagt er. Andererseits: „Wir können uns nicht beklagen. Es gibt ’nen Discounter mit Fleischtheke, die BHG, wo man mal ’ne Schraube kaufen kann, und ’ne Apotheke gibt es auch.“ Und alles könne man zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen. „Ein Auto braucht man eigentlich nicht.“

„Ein Glück gibt es den Fußballverein“
Der KFZ-Schlosser Sommerfeld redet überlegt, er wägt ab und hat für beide Seiten Verständnis. Er kann die drei Männer von der Tankstelle verstehen, denen ihre Orte abhanden gekommen sind, den Bürgermeister, der über den Wandel seiner Stadt frustriert ist. Genauso aber auch die Neuen, die Pfarrer und anderen Berliner, für die diese Orte nie eine so große Rolle gespielt haben und die den Wandel als Chance begreifen. „Ein Glück“, sagt er, „haben hier den Fußballverein, ansonsten ist das Angebot für Kinder eine Katastrophe.“ Deswegen engagiert er sich auch im Verein, brät bei jedem Spiel die Würstchen.
Nie, sagt Sommerfeld, würde er woanders leben wollen als hier in Joachimsthal. Und sein kleiner Sohn, der gerade auf sein Smartphone starrt und gar nicht zuhört, habe das neulich auch verkündet. „Klar ist es schwer“, sagt Sommerfeld, „aber anderswo ist es auch schwer.“ Dann wendet er sich wieder ganz zum Beamer. Es ist die 90. Minute plus Nachspielzeit, gleich wird abgepfiffen. Aber das Bier fließt noch immer im kleinen Vereinshaus von Joachimsthal, für die Fußballfans. Für die anderen bleibt die Bank an der Tankstelle, am Rande der Schorfheide.