Volksentscheid „Klimaneutral 2030“ scheitert, Luisa Neubauer erhebt Vorwürfe
Unser Reporter besucht die Wahlparty. Luisa Neubauer: „Es gibt Kräfte in dieser Stadt, die geben alles dafür, noch den letzten Funken Klimazerstörung rauszuholen.“

Um kurz vor 8 Uhr am Sonntagabend ist die Stimmung sehr gedrückt auf der Wahlparty der Initiative Klimaneustart in Berlin-Kreuzberg. Das erforderliche Quorum von 607.518 Jastimmen für den Volksentscheid „Berlin 2030 klimaneutral“ wird nicht erreicht, das wissen die Aktivisten in ihren roten Warnwesten zu diesem Zeitpunkt schon. Doch die Trauer über den gescheiterten Entscheid hält nicht lange an. Kurze Zeit und einige aufmunternde Reden später recken die meisten jubelnd ihre Hände in die Luft.
Eine Mehrheit für #Berlin2030 & trotzdem reicht es nicht. Das ist nicht nur hart für den Volksentscheid, sondern für alle, die sich darauf verlassen können sollten, dass im Klimaschutz endlich losgelegt wird.
— Luisa Neubauer (@Luisamneubauer) March 26, 2023
Wir kämpfen bergauf. Aber auch nach heute ist klar: Wir kämpfen weiter.
Berlin hat gewählt. Schon wieder, nachdem erst im Februar die Abgeordnetenhauswahl stattgefunden hatte. Rund 2,4 Millionen Berlinerinnen und Berliner wurden nun noch einmal zur Wahlurne gebeten. Zur Abstimmung stand an diesem Sonntag der Klimavolksentscheid, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Berlin bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu machen – und dies verbindlich im Gesetz festzulegen. Doch schon im Laufe des Tages zeichnete sich eine relativ niedrige Wahlbeteiligung ab. Und am Abend gegen 8 Uhr bestätigte sich: Nur knapp mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen haben sich für den Vorschlag der Initiative Klimaneustart ausgesprochen. Stand 22 Uhr: Etwa 164.000 Stimmen zu wenig.
Lesen Sie den Kommentar zum gescheiterten Volksentscheid von Christine Dankbar: „Der künftige Senat kann aufatmen, schade eigentlich“
Bei der Wahlparty der Klimaaktivisten im bUm, einem „Raum für solidarisches Miteinander“ mit hohen Fenstern und rauen Backsteinwänden am Paul-Lincke-Ufer in Kreuzberg, ist schon von Beginn an eine eher verhaltene Stimmung zu spüren. Es gebe im Untergeschoss einen „Safe Space“, in dem die Aktivisten unter sich bleiben wollen, so wurden Pressevertreter beim Eintreten gewarnt. „Falls jemand einen emotionalen Zusammenbruch erleidet“, erklärt einer der Sprecher der Initiative, Stefan Zimmer. Die vergangenen Tage, Wochen und Monate beim Wahlkampf auf der Straße hätten an den Nerven gezerrt.
„Wir sind echt am Limit“, sagt Zimmer in seiner roten Warnweste und mit Schiebermütze auf dem Kopf. Zu diesem Zeitpunkt um kurz nach 18 Uhr ist er sich noch sicher, dass das Ergebnis denkbar knapp ausfallen wird. Die Stimmung auf den Straßen habe gezeigt, „dass wahrscheinlich sehr viele Menschen auch mit Nein stimmen werden, viel mehr als normalerweise“. Denn normalerweise würden Gegner bei Volksentscheiden einfach nicht zur Wahl gehen. Doch bei diesem Thema – Berlin klimaneutral bis zum Jahr 2030 – sei es anders. „Es ist ein Thema, das sehr stark polarisiert“, sagt er.
Alle Infos im Newsblog
Für diese Polarisierung macht Zimmer neben anderen Gründen auch die Aktionen der Letzten Generation verantwortlich. „Sie haben uns nicht geschadet, ich kann deren Aktionen absolut verstehen, aber viele Leute haben uns auf der Straße erst mal mit den Worten begrüßt: Ach, da sind ja die Klima-Kleber.“ Es habe zum Teil gedauert, das wieder aus den Köpfen der Menschen herauszubekommen.
Den ganzen Abend über ist die Stimmung auf der Party unter den Aktivisten emotional. Viele identifizieren sich mit ihrem Anliegen sehr viel stärker, als man es beispielsweise von Anhängern einer Partei kennt. Für sie ist die Klimakrise die größte Bedrohung der Menschheit. Und entsprechend haben sie sich in den vergangenen Monaten ins Zeug gelegt. Während es im hinteren Teil des Raumes vegane Pizza und Limonade für alle gibt, steigt vorne ein Aktivist auf die Bühne, der den Wahlkampf Revue passieren lässt und davon spricht, dass er sich Sorgen um die Zukunft seiner vier Kinder macht. Viele der Zuhörerinnen und Zuhörer haben bei seinen Worten Tränen in den Augen und liegen sich in den Armen.
Unterdessen gehen über die Smartphones der Teilnehmer die ersten Auszählungsergebnisse aus den Bezirken ein. Eine Niederlage zeichnet sich ab. Und unter den Sprechern der Initiative entspinnt sich ein neues Narrativ, das ungefähr so geht: Wir haben gezeigt, dass Berlin Klimaneutralität früher will als die Politik, und wir haben dieses Thema zum Stadtgespräch gemacht. So oder so ein Erfolg.
Und als wenig später klar ist, dass das erforderliche Quorum nicht erreicht wird, wandelt sich dementsprechend auch sehr schnell die Interpretation der Ergebnisse des Volksentscheides. „Das war eben eine Möglichkeit, um Druck für mehr Klimaschutz auszuüben“, sagt Santiago Rodriguez, ein 23-jähriger Aktivist in beigem Anzug. „Aber es ist nicht die einzige Möglichkeit, und wir werden weiter Druck machen, mit Protesten, mit Aktionen, mit mehr Engagement bei den politischen Parteien.“
Friedrichshain-Kreuzberg 77% "Ja", Marzahn-Hellersdorf 71% "Nein" beim #Volksentscheid
— Thorsten Faas @wahlforschung@mastodon.online (@wahlforschung) March 26, 2023

Und auch auf der Bühne sprechen die Rednerinnen und Redner schnell sehr positiv über die Niederlage: „Wir haben es geschafft, dass in den letzten Wochen in der Stadt ununterbrochen über Klimaschutz gesprochen wurde. Medien aus der ganzen Welt haben sich für uns interessiert. Wir haben ein Signal in die Welt hinausgesandt, und ihr habt das möglich gemacht.“ Da jubeln die Aktivisten wieder.
Hört man sich unter ihnen um, woran der Volksentscheid letztlich gescheitert sein könnte, bekommt man viele externe Faktoren als Gründe zu hören. Schon allein dass die Wahl nicht mit der Abgeordnetenhauswahl im Februar zusammengelegt wurde, sei ein herber Schlag gewesen, sagen viele. Einer, der womöglich sogar politisch motiviert gewesen sei. Zudem habe es immer wieder Probleme bei der Briefwahl gegeben. „Und heute war den halben Tag die Website mit der Wahllokalsuche offline“, schimpft ein junger Mann namens Aljoscha. Auf der Bühne ruft Deutschlands bekannteste Klimaaktivistin Luisa Neubauer ins Mikrofon: „Diese Wahl hat deutlich gemacht: Es gibt Kräfte in dieser Stadt, die geben alles dafür, noch den letzten Funken Klimazerstörung rauszuholen.“
Kritik an der Ausgestaltung des Volksentscheides dagegen hört man unter den Gästen kaum – und wenn, dann nur zwischen den Zeilen. „Vielleicht gibt es viele Menschen in Berlin, die uns eigentlich recht in unseren Zielen geben, die aber nicht mit unserem Weg einverstanden sind, diese Ziele zu erreichen“, sagt eine junge Frau.
Tatsächlich hatte es viel Kritik gegeben. Der lauteste Vorwurf: Die Ziele der Initiative seien bis 2030 nicht realisierbar. Oder zumindest nur unter enormem Kostenaufwand. Doch konfrontiert man die Aktivisten auf der Party mit diesen Argumenten, erhält man immer wieder die gleichen Antworten: Natürlich sei das Ziel radikal. Aber diese Zeit erfordere radikale Maßnahmen. Es müsse sich dringend sehr viel beim Klimaschutz ändern. Aber wie und was konkret, das herauszuarbeiten sei Aufgabe der Politik, nicht der Zivilgesellschaft. „Wir können nur Druck machen und zum Ausdruck bringen, dass wir mehr Klimaschutz wollen“, sagt Santiago Rodriguez.
Am Paul-Lincke-Ufer ist man an diesem Abend jedenfalls davon überzeugt, Berlin habe gezeigt, dass es mehr Klimaschutz wolle. Eine Sprecherin der Initiative Klimaneustart kündigt zum Ende der Veranstaltung an, es gebe nun einen Plan B. Man wolle Nachbarschaftsgruppen gründen, das große Netzwerk von Klimaaktivisten noch weiter ausbauen. „Wenn wir es nicht mit einem Volksentscheid schaffen, Berlin klimaneutral zu machen, dann machen wir es jetzt einfach selbst“, ruft sie. Und die Menge klatscht frenetisch in die Hände.
Die Ergebnisse im Überblick
- Am Sonntag konnten die Berlinerinnen und Berliner bei einem Volksentscheid darüber abstimmen, ob es beim Klimaschutz schneller vorangehen soll.
- Bisher ist nach dem Berliner Energiewendegesetz vorgesehen, die klimaschädlichen Kohlendioxid-Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um 70 Prozent zu senken und spätestens bis 2045 klimaneutral zu werden. Die Initiatoren des Volksentscheids forderten eine Verringerung um mindestens 70 Prozent bis 2025 und um mindestens 95 Prozent bis 2030. Und das per Gesetz.
- Der Volksentscheid ist gescheitert. Es konnten nicht die erforderlichen 607.518 Jastimmen erzielt werden.
- Die Wahlbeteiligung lag bei 35,8 Prozent.
- 50,9 Prozent stimmten mit Ja, 47,7 Prozent mit Nein.
- 442.210 Berliner stimmten mit Ja, 423.418 mit Nein.
- 2,4 Millionen Wahlberechtigte konnten beim Volksentscheid abstimmen.
Empfehlungen aus dem Ticketshop: