Aktivistin der Letzten Generation: Das Kleben ist kein Zuckerschlecken

Lina Eichler ist eines der Gesichter der Letzten Generation. Die Vollzeitaktivistin erzählt uns, warum sie eigentlich lieber etwas anderes machen würde.

„Es macht mir überhaupt keinen Spaß, ich würde es lieber nicht machen müssen“, so die Aktivistin.
„Es macht mir überhaupt keinen Spaß, ich würde es lieber nicht machen müssen“, so die Aktivistin.James Merritt für die Berliner Zeitung am Wochenende

Im Café Fräulein Wild am Kottbusser Tor läuft Jazzmusik, bis die seichten Klänge plötzlich verhallen. Lina Eichlers Stimme bricht laut in die Stille hinein. Sie blickt sich erschrocken um: „Gerade so leise hier“, sagt sie und wirkt ein wenig verlegen, als sei sie verwundert über ihre eigene Stimme, die im leeren Raum wie durch ein Mikrofon verstärkt wirkt. Sie wartet, bis die Musik wieder anfängt, dann setzt sie ihren Satz fort, spricht von „Widerstandshotspots“ und „Kampagnenphasen“, „moralischen Pflichten“, „politischem Versagen“.

Als Ort für ein Gespräch mit der Berliner Zeitung schlägt die 20-Jährige dieses Café in Kreuzberg vor; sie hätte davor und danach einige Termine in der Nähe. An ihren kurzen, schwarzen Haaren erkennt man sie schnell, sie sind immer verwuschelt, wirken leicht chaotisch. Im Café setzt sich Eichler im halben Schneidersitz auf ein Sofa, wobei sie aufpasst, dass ihre bunten Sneaker nicht das Polster berühren. Sie bestellt einen Latte macchiato mit Hafermilch. 

Ihr Alltag bestehe aktuell vor allem daraus, Vorträge und Trainings zu organisieren und auch auf der Straße zu kleben, sagt sie. Die Letzte Generation funktioniere arbeitsteilig, sie selbst sei unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Als ihren Beruf will sie den Vollzeitaktivismus aber nicht bezeichnen, eher als „eine Berufung, moralische Pflicht“, sagt Eichler. „Ich will das selbst nicht machen, mich festkleben. Ich würde lieber mein Abi haben, studieren, ein normales Leben leben“, sagt sie. Es wirkt, als begreife sie ihr Engagement als alternativlos, als hätte sie keine Wahl, als fühle sie, sie müsse das tun.

Von Notstand, moralischer Pflicht, Politikversagen, aktivem Widerstand und Gerechtigkeitskämpfen spricht Lina Eichler viel. Diese schweren Begriffe, diese großen Worte, sie sind sozusagen zu ihrem Lebensinhalt geworden, denn sie ist Klimaaktivistin in Vollzeit. Für die Gruppe Letzte Generation hat sie sich seit nun einem Jahr regelmäßig festgeklebt, an Berliner Straßen, auch an ein Gemälde. Sie lebt in einer Aktivisten-WG und bezieht ihren Lebensunterhalt weitestgehend aus Spenden. Sie brach ihr Abitur ab, begrub ihren Studientraum, ihr ganzes Leben richtete sie auf den Aktivismus aus.

Ohne ein breites Bewusstsein über die Dramatik wird sich nichts verändern.

Lina Eichler

Im Jahr 2018, Lina Eichler war 15 Jahre alt, begann sie für Tierrechte zu demonstrieren, „mit einem Pappschild auf der Straße“, sagt sie. 2020 sei sie dann auf Extinction Rebellion gestoßen und war von der Aufmerksamkeit überzeugt, die diese Klimaschutzgruppe mit einer Sitzblockade erreicht hatte. Wie Extinction Rebellion will auch die Letzte Generation durch gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams Störungen erzeugen und so Aufmerksamkeit auf die Klimakatastrophe lenken. Die Aktivistinnen und Aktivisten sind überzeugt, dass die Menschheit nur noch wenige Jahre hat, um im Hinblick auf die Klimakrise zu handeln – das genau jetzt zu tun, sei unumgänglich und moralische Pflicht, so die Überzeugung.

Eichler ist eloquent, spricht schnell, klar und deutlich. Für das Gespräch holt sie einen Notizblock und einen Stift heraus. Sie wirkt medienerfahren. Sie ist stets freundlich, stellt selbst Fragen, kehrt in ihren Antworten immer schnell zurück zu den Beweggründen der Letzten Generation, zur Dramatik der Situation, und sie passt genau auf, nicht zu viel preiszugeben über das, was hinter den Kulissen ihrer Initiative vorgeht.

„Wir haben es geschafft, immer mehr Leute zu mobilisieren, das funktioniert also“, sagt Lina Eichler.
„Wir haben es geschafft, immer mehr Leute zu mobilisieren, das funktioniert also“, sagt Lina Eichler.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Die „Widerstandskampagne“, so nennt Eichler die Letzte Generation, sei auf Medien angewiesen, um möglichst viele Leute zu erreichen. Es ist ein professionelles Verhältnis, das sie zu den Medien pflegt. Da sei aber noch sehr viel Luft nach oben, sagt sie, betont das „sehr“ deutlich, schärft ihren Blick. Häufig fehlten in entsprechenden Artikeln zusätzliche Informationen, die die Hintergründe der Klimakatastrophe erklären und über Kipppunkte informieren. „Ohne ein breites öffentliches Bewusstsein über die Dramatik wird sich nichts verändern“, sagt Eichler.

Von Kipppunkten spricht sie häufig. Würden zum Beispiel das Antarktiseis, der Amazonas-Regenwald oder Korallenriffe durch die Erderwärmung bis zu einem bestimmten Punkt zerstört, setzte das eine Kettenreaktionen in Gang. Und die hätte katastrophale Auswirkungen auf das Weltklima. Einige der Kipppunkte könnten bereits bei einer Erwärmung von 1,5 Grad erreicht werden, heißt es im Sachstandbericht des Weltklimarats aus dem vergangenen Jahr. Es gäbe zwar noch die Möglichkeit, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, dafür brauche es aber grundlegende Veränderungen in der Klimapolitik weltweit.

Dass über uns am Abendbrottisch und im Parlament gesprochen wird, ist ein Erfolg.

Lina Eichler

Die Aktionen der Letzten Generation seien effektiv, „wir haben es geschafft, immer mehr Leute zu mobilisieren, das funktioniert also“, sagt Eichler. „Auch, dass über uns am Abendbrottisch gesprochen wird, dass im Parlament über uns gesprochen wird, ist ein Erfolg“. Seit dem 24. Januar vergangenen Jahres, als die Letzte Generation das erste Mal Berliner Straßen blockierte, sei sie bei vielen Aktionen dabei gewesen, hätte sich an die A100 und an ein Gemälde von Lucas Cranach in der Berliner Gemäldegalerie geklebt. Mehr als 30 Strafverfahren gegen sie hätten sich mittlerweile angesammelt, so Eichler. Sie werde aber definitiv weitermachen, betont sie.

Mit der Letzten Generation ist Eichler nun im dritten Jahr aktiv. 2021 zum Beispiel hat sie an einem Hungerstreik vor der Bundestagswahl teilgenommen, 20 Tage verweigerte sie die Nahrung. Als Ziel ihrer Aktion gaben Eichler und ihre Streikpartner an, ein öffentliches Gespräch über den Klimanotstand mit den Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten führen zu wollen. Eichlers Mitstreiter Henning Jeschke sei fast gestorben, als er am Ende auch noch Flüssigkeit verweigerte, sagt Eichler.

Ihr Ziel eines Gesprächs erreichten sie schließlich. Es fand vor laufenden Kameras statt, mit dem dann zum Bundeskanzler gewählten Olaf Scholz. „Doch auch da kam vom angeblichen Klimakanzler: Abblocken, leere Worte“, sagt Eichler mit Blick auf das Gespräch, das Jeschke und die Letzte-Generation-Aktivistin Lea Bonasera mit Scholz geführt hatten. „Was die Klimaforschung schon lange sagt, wurde dort noch einmal deutlich“, so Eichler: „Die Regierung hat die Situation nicht im Griff.“

Daraufhin hätte sich die Letzte Generation für 2022 ein neues Protestkonzept überlegt und vor einem Jahr mit den Straßenblockaden begonnen. „Die Intensität hochgefahren“, wie Eichler beschreibt. Wann sie selbst mal aufhören werde, das mache sie von den politisch Verantwortlichen abhängig. Für sie sei aber klar, dass sie aktuell noch weitermachen müsse: „Es macht mir überhaupt keinen Spaß, ich würde es lieber nicht machen müssen. So lange es aber notwendig ist, weil die Regierung nicht handelt, mache ich es.“ Lina Eichler handelt vollends entschlossen. Und bleibt doch eine Aktivistin wider Willen.