Berlin gilt als Stadt der Ungläubigen – aber das stimmt nicht!
In der deutschen Hauptstadt gibt es mehr Kirchen als in Paris, aber vergleichsweise wenige Gläubige. Unser Kolumnist glaubt: Eine Gruppe wird meist vergessen.

Berlin ist eine Stadt der religiösen Bauwerke: Hier stehen etwa 400 christliche Kirchen. Das sind immerhin 100 mehr als in Paris und fast halb so viele wie in Rom. Dazu kommen 80 Moscheen, sechs Synagogen und gleich zwei Hindutempel, die auf der Nordhalbkugel echt selten zu finden sind. Trotzdem gilt Berlin als Stadt der Ungläubigen.
Die deutsche Hauptstadt hat 3,8 Millionen Einwohner, und die Zahlen sind eindeutig: 525.000 Gläubige dieser Stadt sind evangelisch, etwa 300.000 katholisch und fast ebenso viele Muslime. Es gibt auch noch fast 40.000 orthodoxe Christen, 10.000 Juden und jeweils 6000 Buddhisten und Hindus. Aber selbst alle Gläubigen zusammengenommen ergeben keine Mehrheit. Geschätzt fast 70 Prozent der Einwohner dieser Stadt sind ungläubig oder Atheisten oder Agnostiker oder stehen den Kirchen oder der Religion fern.
Weltweit ist es anders herum: Da stuft sich eine große Mehrheit als religiös ein. Die Berliner Toleranz ist schon mal ein Wert an sich, denn in vielen Ländern dieser Welt müssen sich Atheisten davor fürchten, ausgegrenzt zu werden oder missioniert oder gar bestraft.
Doch so ganz stimmt es nicht, dass die Mehrheit in Berlin ungläubig ist. Die größte religiöse Gruppe ist auch in Berlin die Gruppe der Abergläubischen. Der Aberglaube hat keine Kirche und keinen Gott. Und trotzdem ist er sehr wirkmächtig. Denn obwohl Atheisten streng genommen jede Religion für Aberglaube halten, neigen selbst beinharte gläubige Atheisten zum Aberglauben. Wenigstens heimlich.
Fledermäuse und Winkekatzen
Oder offiziell: In vielen Hotels fehlt das Zimmer 13, in manchen Hochhäusern die 13. Etage, dazu kommen all die allgemein anerkannten Glücksbringer wie Schornsteinfeger, Kleeblätter, Glückspfennige, Scherben oder Hufeisen. In Japan gelten Winkekatzen als Boten des Glücks, in China sind es die Fledermäuse. Und bei uns kommen die meisten durcheinander, ob es Pech oder Glück bringt, wenn die Katze von links nach rechts läuft oder umgekehrt.
Und dann der Alltagsglaube. Meinem Bruder fiel mal auf, dass eine Straßenlaterne in seiner Straße immer dann kurz erlosch, wenn er vorbeikam. Das passierte jedes Mal. Eine Weile glaubte er tatsächlich, dass es kein zufälliger Zusammenhang ist, sondern das es einen notwendigen Zusammenhang zwischen ihm und dem Erlöschen der Laterne geben muss.
Neuerdings geht es mir ähnlich: Auf meinem Arbeitsweg ist an einer bestimmten Ampel immer Rot. Egal, wann ich da vorbeikomme. Morgen um Morgen, Abend für Abend. Jeden Tag. Seit Wochen. Seit Monaten. Ist das Aberglaube? Und was bedeutet es, dass gestern an der Ampel endlich das erste Mal Grün war. Ist das jetzt eine Erlösung oder ein Fluch?