Ukraine-Krieg: Die neue Berliner Melancholie

Das Wetter ist schön, die Menschen kommen wieder zusammen. Trotzdem herrscht ein trauriger Ton in Berlin, die eigentlich weit weg ist vom Krieg in der Ukraine.

Pause im Volkspark Friedrichshain
Pause im Volkspark FriedrichshainVolkmar Otto

Mir scheint, obwohl der Tourismus wieder anwächst, britische, italienische, französische Jugendgruppen wie gewohnt durch die nächtlichen Straßen grölen und die Nachtigallen singen, ein neuer Ton in der Stadt zu schwingen. Vielleicht, weil die vielen russischen und ukrainischen Stimmen auf den Straßen, in den Geschäften und Cafés den Krieg zum Teil des Berliner Alltags machen.

Ukrainisch, lernte ich inzwischen, hat so herrlich viele weiche Zischlaute wie Polnisch, rollt aber satt wie das Russische. Und viele Ukrainer sprechen hervorragend Englisch, Deutsch, Französisch.

Man will also einfach nur einen Croissant mit Kaffee zu sich nehmen und sehr altmodisch Zeitung lesen. Aber rechts wird entsetzt über ungeheuerliche Kriegsverbrechen gesprochen, blanken Mord, die Ausplünderung von Wohnungen – wo sind unsere Diplomzeugnisse, Gott sei Dank haben wir den Schmuck zur Oma gebracht, wird das Geschirr überlebt haben?

Links wird versucht, Kindern beizubringen, dass TikTok, Facebook oder Telegram nicht immer die Wahrheit verkünden: Nein, die Deutschen werden nicht bald zur Minderheit in Deutschland, die Amerikaner haben auch viel Mist gebaut, aber im Gegensatz zu denen, die in Putin-Russland leben müssen, dürfen sie das auch kritisieren, nein, es gibt kein Abwurfdatum für Atombomben. Wie erklärt man das Pubertierenden, die meinen, dass Erwachsene sowieso auf dem toten Gleis stehen?

Angst vor Russland treibt Staaten in die Nato

Warum hat Putins Russland so viele Gegner? Wir lesen und hören vom systematischen Diebstahl in ukrainischen Bibliotheken, Museen und Archiven und erinnern uns an die Plünderung deutscher Institutionen 1945.

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berliner zeitung/mike fröhling
„Berliner Zeitung“-Kolumnist Nikolaus Bernau

Der Abtransport von Tausenden Tonnen Getreide aus der Ukraine löst bei den neuen Freunden unwillkürlich die Erinnerung an die Hungerpolitik Stalins aus. Finnlands Antrag auf Mitgliedschaft in der Nato hat einen großen Grund: Angst vor Russland.

Sisu hat in Finnland schon im Winterkrieg gegen die Sowjetunion geholfen

Sisu nennt man sturen Beharrungswillen in Finnland. Er hat das Land im Winterkrieg gegen „die Russen“, genauer, gegen die Sowjetunion 1939–1940 gerettet. Jetzt soll Sisu wieder helfen, bis endlich die Nato voll schützt. Putin droht genauso wie einst Stalin. Auch damals meinten übrigens die meisten im Westen, dass die Angegriffenen keine Chance hätten, man sich mit den Diktatoren arrangieren solle.

Die Berichte von irgendwo in Russland verschwundenen ukrainischen Kriegsgefangenen aus Mariupol bringen eine italienische Freundin dazu, von den 1945 in der Sowjetunion verschollenen italienischen Kriegsgefangenen aus dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Ältere Deutsche fangen an, über die deutschen Kriegsgefangenen zu berichten, und in ihren vielen Berichten erzählen, dass doch „die Russen“ noch viel ärmer dran gewesen seien. Putin bringt auch Erinnerungen hervor, die viel zu lange verschüttet waren.

Die neuen Freunde aus der Ukraine haben indes sehr viel Sisu. Sonst würden sie den Kampf mit Behörden um die kleinsten Papiere kaum durchstehen. Sie retten sich oft in blanken Spott über die technologische Rückständigkeit Deutschlands.

Auch das deutsche Selbstbild vom Land der perfekten Administration unter dem Segen einer Staatsheiligen Schwarze Null wird gerade von Putin zerschossen: Die kleine Ukrainerin hat seit Wochen einen Unterricht online, den ich mir offline für hiesige Schulen nur wünschen kann. Wann gab es hier die letzte Woche ohne Unterrichtsausfall? Wo ist eigentlich das viele Geld geblieben, das wir durch den eisernen Blick auf die Schwarze Null eingespart haben? Auch in total übermotorisierten Autos, die die Straßen verstellen, während ihre Besitzer, sorry das Klischee, Ökomilch kaufen.

Nein, derzeit gelingt es nicht einmal den Nachtigallen und dem duftenden Flieder, die neue Berliner Melancholie zu vertreiben.