Kommentar : 2016 war ein Jahr der politischen Zerreißproben
Berlin - Eine der anrührendsten Geschichten des Jahres ging bald nach der Nachricht vom Tod des großen Songpoeten Leonard Cohen um die Welt. Als dieser von der unheilbaren Erkrankung seiner früheren Freundin und Muse Marianne Ihlen erfahren hatte, so heißt es, schrieb er ihr einen letzten Brief: „Marianne, wir sind nun beide in dem Alter angekommen, da unsere Körper langsam anfangen, zu vergehen – und ich denke, dass ich dir bald folgen werde. In dem Wissen, dass ich so nah bei dir bin, kannst du einfach deine Hand ausstrecken, und ich denke, du wirst meine erreichen.“ Marianne Ihlen starb zwei Tage nachdem ihr Mann ihr den Brief Cohens vorgelesen hatte. Kurz bevor sie starb, soll sie Cohens Song „Bird on the Wire“ gesummt haben.
Über die Empathie zweier Sterbender und das gelassene Nachdenken über das Leben hinaus zeugt diese Szene trotz des nahen Todes von einer seltenen Zuversicht. Weder Kampf noch Verbitterung gelangt hier zum Ausdruck, vielmehr scheint in ihr das Glücksempfinden über das gemeinsam Erlebte enthalten.
Zuversicht dürfte indes die letzte Vokabel sein, die einem einfällt, wenn man nach einer Charakterisierung des Jahres 2016 sucht, und das nicht allein wegen des brutalen Angriffs auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, der Deutschland nun endgültig zu einem Ort gemacht hat, der nicht länger von den Heimsuchungen des internationalen Terrorismus verschont geblieben ist.
Neben den terroristischen Gewaltmanifestationen sind es meist Naturkatastrophen und tragische Unglücksfälle, die zum Jahreswechsel ein Gefühl der Demut hervorrufen, weil man sich eingestehen muss, dass man der Wucht des Schicksals kaum etwas entgegenzusetzen vermag. Das Unvorhersehbare reißt Gewissheiten ein und spült Gewohnheiten fort, mit denen man dem eigenen Leben einen verlässlichen Rahmen glaubte geben zu können. 2016 wird als ein Jahr in die politische Geschichte eingehen, in dem Menschen die Wahl hatten und diese dazu nutzten, ihre jeweilige politische und gesellschaftliche Ordnung durch bewusste Entscheidungen vor eine Zerreißprobe stellen.
Erprobte Mechanismen des Austauschs von Regierung und Opposition radikal in Frage gestellt
Noch ist kaum abzusehen, welche Folgen etwa die Entscheidung der Briten hat, die Europäische Gemeinschaft zu verlassen. Aus einer verblüffenden politischen Laune heraus haben die Briten es so gewollt. Das gilt erst recht für die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA, die als Erdbeben in der Geschichte der amerikanischen Demokratie wahrgenommen worden ist, weil sie die erprobten Mechanismen des Austauschs von Regierung und Opposition radikal in Frage gestellt hat. Beide Wahlentscheidungen jedenfalls werden nicht nur Folgen haben für jene, die abgestimmt haben. Sie haben auch die Koordinaten erschüttert, innerhalb derer sich die politische Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat. Und auch in anderen Ländern wurden oder werden gesellschaftliche Revolten per Referendum angezettelt.
Dabei handelt es sich nicht um Bewegungen des gesellschaftlichen Aufbruchs. Eher feierte man sich im Triumph einer politischen Stimmung, die es für einen Vorzug des Augenblicks hält, bar jeder belastbaren Programmatik zu sein. Wo sich das Unbehagen doch noch einmal politisch artikulierte, waren es meist Reaktionen eines trotzigen Widerspruchs, die mit einer beachtlichen zerstörerischen Energie kaum mehr auszurufen scheinen als: So kann es doch nicht weitergehen.
Nichts ist dabei absurder als die Bezeichnung dieser neuen politischen Sprechergruppe als „besorgte Bürger“. Es geht ihnen ja gerade nicht um die Bewahrung bürgerlicher Errungenschaften und Werte. Der politische Flurschaden, der über einen längeren Zeitraum entstanden, aber so recht erst 2016 bemerkt worden ist, besteht in einem in nahezu allen gesellschaftlichen Milieus grassierendem Gefühl von einer verbauten Zukunft. Die konservative Sorge um den Erhalt des Bestehenden scheint dabei nicht minder diskreditiert wie die Ideen eines gesellschaftlichen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit. Den größten Zuspruch haben paradoxerweise zuletzt jene bekommen, die bereit sind, beherzt auf die Bremse zu treten, obwohl der unsanfte Aufprall wahrscheinlich scheint. Es lärmt gewaltig im politischen Betrieb, eine neugierige Verständigung darüber aber, wie wir leben wollen und was wir dafür bereit sind zu investieren, findet kaum mehr statt.
2017 wird ein Jahr mit vielen wichtigen politischen Entscheidungen. Für sie gilt genauso wie für die vielen privaten: Treffen Sie eine zuversichtliche Wahl.