Kommentar aus New York: Gentrifizierung ist ein globaler Virus

Vor ungefähr dreißig Jahren saß ich mit einem Freund und seinem fünfjährigen Neffen in einer U-Bahn in Manhattan, als er dem kleinen Jungen versprach, ihm einen Zaubertrick zu zeigen. Während sich der Zug durch den Tunnel kämpfte, sagte er zu dem Jungen: „Am nächsten Bahnhof lasse ich alle weißen Fahrgäste aussteigen!“

Gesagt, getan: Obwohl der Kleine die Situation skeptisch beäugte stiegen nach dem Öffnen der Türen tatsächlich alle weißen Fahrgäste aus. Ausnahmslos. Dann fuhr der Zug weiter nach Harlem. Der Junge staunte: „Wie hast du das gemacht?“, aber mein Freund grinste nur. Vor 30 Jahren war das der einfachste Trick, um ein Kind in New York City zu verblüffen. Es gab auch noch andere Bahnhöfe, an er genauso funktionierte: im tiefsten Brooklyn, oder in manchen Gegenden in Queens.

Heute wäre das nicht mehr so einfach. Heruntergekommene Viertel haben sich wie von Zauberhand verwandelt. Ehemals baufällige Brownstones sind zu Immobilien mutiert , deren Wert im siebenstelligen Bereich liegt. Das alte Schulgebäude in Brooklyn, in dem ich übernachte, besteht aus großen Wohnungen, die seinerzeit von Lehrern, Ärzten und Besserverdienenden mit Geld, das sie im Laufe ihres Lebens erarbeitet hatten, erworben worden waren. Heutzutage werden luxuriös renovierte Wohnungskomplexe durch Treuhandfonds finanziert und an Käufer verschachert, die gerade aus der Uni kommen. Ein berühmter Musiker hat sich gleich nebenan eingekauft.

Ohne Kinder und Verantwortung

Meine alte Nachbarschaft um die ehemalige Schule hat sich verändert. Wo früher alteingesessene Eisenwarenläden und puertoricanische Bäcker ihre Geschäfte hatten, bieten heute Lululemon und Barney’s ihre überteuerten Luxusartikel an. In einem dieser Läden erzähle ich einem Verkäufer, dass ich in Berlin lebe. „Ich ziehe auch dort hin“, sagt der 20-jährige Tänzer. „Alle sagen, dass das Leben da so billig ist!“ Ich nicke. Es stimmt. Immer noch. Aber ich sage ihm auch, dass in Berlin die Gentrifizierung genauso stattfindet wie in New York, nicht ganz so extrem, aber trotzdem auf schmerzhafte Weise.

Wenn ich diesen jungen Amerikaner betrachte, frage ich mich, ob junge Leute wie er, ohne Kinder und Verantwortung, die jederzeit gehen können, wohin sie wollen, nicht die Ursache dafür sind, dass sich die Mieten erhöhen? Er wird die 90-Quadratmeter-Wohnung für 1400 Euro im Monat gerne anmieten, denn sie würde in dem noch vor kurzem gar nicht so begehrten Stadtteil Bedford Stuy in Brooklyn satte dreitausend kosten.

Kreuzberg, Neukölln, Friedrichshain

Er sagt, dass er dann auch gerne Übersetzungen machen würde, oder Büroarbeit, oder Englisch unterrichten. Wenn er sich eine Wohnung mit ein paar anderen jungen Amerikanern teilen würde, könnte er ja auch etwas weniger Geld als Bezahlung akzeptieren. Also sinkt der Preis für Dienstleistungen wie Sprachunterricht, Übersetzungen und Services in der Gastronomie.

Gentrifizierung ist ein globaler Virus, der die Armen ärmer macht und die Fundamente der Mittelklasse erschüttert. Und obwohl im deutschen Sozialsystem Schutzmechanismen vorgesehen sind, etwa bei Kündigungen und Mieterhöhungen, sollte die Entwicklung in New York eine Warnung sein. Wenn ich mir heute Kreuzberg, Neukölln oder Friedrichshain anschaue und mich an dieselben Orte vor 20 Jahren erinnere, kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, das alles schon einmal erlebt zu haben.