Rot und Grün verzeichnen ein mieses Wahlergebnis: Jetzt muss der Wandel her

Berlin hat gewählt und bei SPD und Grünen hat man den Knall nicht gehört. Die Berliner wollen keinen politischen, sie wollen einen kulturellen Wandel. Und zwar jetzt. Ein Kommentar.

Als Schattenmann ins Rote Rathaus? Der Berliner CDU-Chef Kai Wegner.
Als Schattenmann ins Rote Rathaus? Der Berliner CDU-Chef Kai Wegner.Sebastian Gollnow/dpa

Als Ende der 80er-Jahre die rechtskonservative Partei der Republikaner, die sogenannten REPs, ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt worden waren, meinten viele Angehörige des linksalternativen Milieus, in einem bösen Traum zu erwachen. Der Nachbar, dem man im Hausflur bislang freundlich-desinteressiert ausgewichen war, stand plötzlich im Verdacht, ein Rechter zu sein: Es fühlte sich an wie ein Messerstich in die multikulturelle Kiezseligkeit, die damals noch den Hauch einer politischen Hoffnung enthielt.

Natürlich ist der Wahlerfolg der CDU Kai Wegners nicht mit jenem Kulturschock zu vergleichen, der kurz vor der Wende das verschlafene West-Berlin erfasste. Zwar war die CDU seit jeher ein Fremdkörper in der traditionell sozialdemokratisch fühlenden Stadt. Politiker wie Richard von Weizsäcker und Eberhard Diepgen brachten jedoch unmissverständlich zum Vorschein, dass die raue Berliner Aufmüpfigkeit eine ausgeprägt kleinbürgerliche Facette enthielt. Insbesondere Diepgen vermochte Berlin nicht trotz seiner faden Ausstrahlung derart lange regieren, sondern wegen ihr.

Die Erschöpfung des Sinns für politische Realität

Das Ergebnis der Wiederholungswahl vom Sonntag markiert also nicht zwingend einen durch die Stadtgesellschaft gehenden Ruck, wohl aber kommt darin ein Bedürfnis zum Ausdruck, der sich in Prinzipienreiterei ergießenden links-grünen Selbstblockade ein Ende zu bereiten.

Berlin hat gewählt, und dass die beiden Spitzenkandidatinnen Franziska Giffey (SPD) und Bettina Jarasch (Grüne) am Sonntagabend allen Ernstes glaubten, aus ihren miesen Wahlergebnissen von jeweils deutlich unter 20 Prozent einen Regierungsanspruch ableiten zu können, zeugt von einer paralysierenden Erschöpfung des Sinns für politische Realität.

Aus all dem ergibt sich ein legitimer Anspruch Wegners, möglichst schnell die Senatsgeschäfte zu übernehmen. Ein Ausdruck von Stärke und Aufbruch ist indes nicht in Sicht. Die vermeintliche Dominanz der Wegner’schen CDU ist überwiegend an den Rändern der Stadt gewachsen. Die Eigenheimbesitzer in Spandau und Britz, aber auch in Reinickendorf und Pankow sind angesichts der Silvesternachrichten aus Neukölln kaum weniger erschrocken als die Häuslebauer in Baden-Württemberg und Nordhessen. Die lange auch für Marketingzwecke funktionale Vorstellung, dass Berlin arm, aber sexy sei, ist allerdings selbst in Tempelhof, wo Klaus Wowereit aufgewachsen ist, weder verstanden noch wirksam geworden.

Es ist allenfalls bedingt möglich, in den knapp 30 Prozent für die Berliner CDU einen Kulturwechsel zu erkennen. Sehr viel wird vielmehr vom politischen Pragmatismus der Leute um Kai Wegner abhängen, aus dem Ergebnis einen tragfähigen Machtanspruch zu basteln. Nicht erst seit der Wiederholung der desaströs verlaufenen Abstimmung zum Superwahl-Termin 2021 zeigt sich ein dramatischer Bedeutungsverlust lokaler Wahlen gegenüber den unmittelbar in die Weltpolitik eingreifenden Entscheidungen der Bundespolitik.

Das eklatante Verwaltungsversagen

Wo immer in den zurückliegenden Wochen die anstehende Wahl zum Abgeordnetenhaus zur Sprache kam, landete man schnell bei einer sich bis zum Zorn steigernden Unzufriedenheit über das politische Personal, gleichgültig welcher Couleur. Wer jedoch beim Abwurf seines Stimmzettels ein wenig ehrlich mit sich und seiner Entscheidungsfindung umgegangen ist, dürfte eingestehen, nicht so genau zu wissen, wofür der jeweilige Kandidat eigentlich steht, den sie oder er gerade mit einem Vertrauensvorschuss ausgestattet hat.

Es wird ja nicht nur an der Friedrichstraße um die Verkehrsführung gestritten. Wo aber in einem vergleichbaren Fall in Friedenau gerade die parteilichen Linien verlaufen, verstehen nicht einmal die Friedenauer, die zwei Straßenecken weiter zu Hause sind.

Das eklatante Verwaltungsversagen, für das sich in großer Zahl neue Beispiele finden lassen, ist denn auch nicht zwingend einer Partei zuzuschreiben, wie es viele Wähler laut Nachwahlbefragungen überwiegend den ewigen Sozialdemokraten anlasten. Tatsächlich aber hat es die SPD unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit zugelassen, die mittleren Ebenen der Kompetenz und des Einspruches, die es in jeder Verwaltung gibt – und diese manchmal wohl auch bremsen –, weitgehend zu entmündigen. Eine dringend notwendige Modernisierung der Stadt und ihrer Arbeitsstrukturen wird leider kaum durch einen politischen Farbwechsel zu bewältigen sein. Sehr viel stärker aber dürfte die Zukunft der Stadt von einer Dynamik abhängen, die in die Lage versetzt wird, sich von unten nach oben ebenso zu entwickeln wie in die Peripherie.

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