Kommentar: Berlin, wo Freundlichkeit Schwäche ist
Ein bisschen freundlicher sein im Neuen Jahr! Das habe ich mir vorgenommen und heute früh gleich ausprobiert. Als ich auf dem Bahnhof in die S-Bahn einstieg, wollte schnell noch einer rausspringen. Ich trat zurück, er rammte mich trotzdem. Von hinten latschte mir jemand in die Hacken. „Tschuld’ jung“, sagte ich, denn ich war ja plötzlich stehengeblieben. Die Antwort kam prompt: „Penn’ kannste ooch ze Hause!“
Klar, plötzlich war ich schuld, dabei wollte ich nur nett sein. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera nannte es das Phänomen des Entschuldigers. Sein Beispiel: Zwei rempeln sich im Gedränge an, weil sie nicht aufgepasst haben. Beide müssten sich entschuldigen. Doch nur einer tut’s, weil er freundlich sein will. Genau falsch! Denn, so Kundera: „Wer sich entschuldigt, bekennt sich schuldig.“ Er gebe dem anderen das Recht, noch eins draufzusetzen. Man hört dann Sachen wie: „Jeh doch no’ ma inne Laufschule!“ oder „Passdo’ uff!“
Dabei war Berlin sogar mal ein Beispiel für ausgesuchte Höflichkeit. So unglaublich es klingt. In einer Untersuchung des Magazins Reader’s Digest landete die Stadt im Jahre 2006 auf Platz 4 unter den 35 höflichsten Metropolen der Welt – hinter Zürich, Toronto und New York. Zu den Kriterien gehörten Türaufhalten, Hilfsbereitschaft, Bitte-und-Danke-Sagen.
„Ditt is längst vorbei!“, sagt mein oller Schulkumpel. Und er hat auch eine Theorie dafür. „Alle renn’se rum mit’n Händi vor de Neese. De Birne sackt nach vorne, erjo issa traurich oder hat schlechte Laune. Und folglich issa unfreundlee.“ Man könne dem entgegenwirken, indem man eine Minute lang kräftig grinse. Die Gesichtsmuskeln signalisierten dann dem Gehirn: Der Mensch ist gut gelaunt.
„Ditt wär doch lustich: Alle renn’ rum mit so’n Dauergrinsen. Komm’ se jar nich mehr dazu, unfreundlee zu sein.“ Ich weiß nicht. Ich stelle mir das gruselig vor. Lauter grinsende Zombies. Dann lieber ein paar blubberige Berliner, die einem in die Hacken latschen.