Kommentar: Homöopathie untergräbt unser Krankensystem
Brillen gehören nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen, obwohl sie trübe Augen sehend machen und Millionen Menschen helfen, Arbeit und Alltag zu bewältigen. Auch die Messung des Augeninnendrucks zum frühzeitigen Entdecken des Grünen Stars muss der Patient selber zahlen, auch wenn er über 60 Jahre alt ist und das Glaukom die Familie heimsucht.
Andererseits bezahlen 80 der 120 in Deutschland tätigen Kassen eine Art von Medikamenten, deren Wirksamkeit auch nach 200 Jahren und vielerlei Studien nicht nachgewiesen werden konnte: homöopathische Globuli und Tropfen. Die Kassen zahlen sogar freudig, obwohl das Sozialgesetzbuch fordert: „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.“ Die Bedingungen sind im Fall der Homöopathie nicht erfüllt.
Es ist müßig, die rituell angeführten Glaubenssätze der Globulifreundinnen und -freunde zu wiederholen. Sie dürfen sich ja bekugeln und betropfen, keiner hat die Absicht, es zu verbieten. Jeder darf sein Befinden verbessern, wie er mag. Der eine geht an die frische Luft, der andere zum Handauflegen. Und wer sich nach dem Verzehr von Globuli aus Zucker mit nicht nachweisbaren Molekülen von Rose, Hopfen und Ethanol („Bernsteinessenz“ zur Stimmungsaufhellung) besser fühlt – wie schön für ihn. Die Frage ist bloß, wer das bezahlt. Darf das wunderbare Solidarsystem unserer gesetzlichen Krankenkassen, um die uns die halbe Welt beneidet, derart unterwandert und missbraucht werden?
Sehnsucht nach Magie
Die Frage ist essenziell für das Gemeinwesen – kein Wunder, dass die jüngste Debatte höchst erregt geführt wird. Auslöser war die sachliche Bitte eines Mitglieds der Techniker-Krankenkasse um einen Wirknachweis. Die Kasse twitterte pampig zurück: Das Mitglied solle mal einen Beweis für die Nicht-Wirksamkeit erbringen. Das kam schlecht an, woraufhin die Kasse den wahren Grund preisgab: Die Homöopathie hat sich als super Marketingmasche erwiesen, um im Grunde gesunde, also kostengünstige Mitglieder in der Kasse zu halten oder in diese zu locken. Die Kundschaft wolle das, also gebe man es ihr.
So spricht ausgerechnet jene Kasse, die noch kürzlich so positiv aufgefallen war, als sie kosten- und verdiensttreibende Praktiken von Ärzten öffentlich machte, die ihre Patienten kränker schrieben als sie sind, um teurere Therapien abzurechnen.
Der Bruch mit medizinischen Standards zwecks Adelung der Globuli zur Arznei geht auf das Wirken der Pharmalobby-Partei FDP zurück. Deren Gesundheitsminister Daniel Bahr öffnete 2012 durch eine Änderung im Sozialgesetzbuch dem Hokuspokus Tür und Tor: Seither dürfen Kassen „Arznei- und Heilmittel der besonderen Therapierichtungen“ erstatten. Den Erfolg spürt nicht der Kranke, sondern die Globuli-Industrie: Die Umsätze steigen, im vergangenen Jahr gaben Kassen und Käufer des teuersten Zuckers der Welt 620 Millionen Euro aus.
Ist es eine atavistische Sehnsucht nach Magie im sonst so sachlichen Alltag? Jedenfalls ist es ein Frontalangriff auf die für den Westen konstitutive Aufklärung, wenn Wissen und Beweise nicht mehr gelten sollen, sondern mittelalterlich anmutende Mirakelberichte von Wunderheilungen angeführt werden. Jawohl, der Glaube versetzt Berge, aber warum sollten Kassen – das heißt: die Allgemeinheit – dafür bezahlen? Soll auch die Beplusterung von Warzen durch die örtliche Schamanin zur Kassenleistung werden?
Wo kein Wirkstoff ist, kann nichts wirken
Befragungen haben ergeben, dass Globuli im Krankheitsfall in der Regel nicht anstelle wirksamer Arznei eingenommen werden, sondern zusätzlich. Zum Glück, denn Kranke sollen ja gesunden. Aber was bieten nun die Kassen jenen Mitgliedern an, die keine Globulikosten erzeugen? Dürfen die künftig Wellness-Voucher, Tattoo-Gutscheine oder geführte Nacktwandertage abrechnen?
Scherz beiseite: Die Krankenkassen sind viel zu wichtig, um eine derartige Aushöhlung weiter zuzulassen. Alle auf den Weg gebrachten Studien, ob in Australien oder der Schweiz, liefern das gleiche Ergebnis: Wo kein Wirkstoff ist, kann nichts wirken. Hierzulande hat man die Suche nach dem Imaginären noch nicht aufgegeben. Wird Deutschland, das gelegentlich dem Irrationalen verfällt, dennoch den Schritt heraus aus dem Nebel schaffen? Jetzt, wo sich viele Leute der irren Wirkung postfaktischen Unsinns bewusst werden, kann Hoffnung wachsen. Die nächste Koalition muss das verrückte FDP-Gesetz ändern – im Dienst der Allgemeinheit.