: Kommentar: In Berlin ist nicht Armut das Problem, sondern schiefgelaufene Integration
Armutsquartiere, Problemkieze, sozial abrutschende Viertel, Verdrängungsprozesse – mit diesen Schlagwörtern wird der Inhalt des soeben vom Senat veröffentlichten Berichts zur sozialen Stadtentwicklung Berlins zusammengefasst. Beschreiben diese Negativbegriffe wirklich die Dynamik der Stadt? Sind ganze Viertel auf dem Weg, Slums zu werden? Entstehen hier Banlieues, soziale Brennpunkte wie in französischen Vorstädten, Brutstätten der Gewalt?
Nein, davon ist Berlin weit entfernt, und das ist die eigentliche Aussage der Sozialstudie 2015 zur Lage der Stadt: In fast allen Vierteln sinkt der Anteil von Arbeitslosen oder Langzeitarbeitslosen seit 2006 kontinuierlich, die soziale Benachteiligung nimmt ab. Stabilität und Aufwärtstrends symbolisierende Farben dominieren die Übersichtskarten des Berichts. Keineswegs konzentriert sich an den Stadträndern alarmierendes, Notstandsgebiete markierendes Rot.
Am erfreulichsten ist die Zahl der „Gebiete mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf“, in denen sich Probleme ballen: Statt 51 solcher schwierigen Viertel, die der vorangegangene Bericht 2013 auswies, sind es jetzt 43. Diesen Status haben 17 Viertel überwunden, neun sind neu hineingeraten. Nicht alles ist gut, aber es gibt mehr Gründe, von einem Fortschritts- als von einem Armutsbericht zu sprechen.
Etwa ein Drittel der Berliner Kinder lebt in Armut
Wie auch immer: Er hat mobilisierendes und motivierendes Potenzial, denn er zeigt straßengenau, wo die kleinen Leute, die in tatsächlich prekären Verhältnissen leben, deren weiteres Abrutschen zu verhindern ist. Durchschnittszahlen sagen wenig über die Lage aus, die konkreten Angaben sprechen Bände. Rund 16 Prozent der Berliner (bundesweit 7,5 Prozent) leben von Hartz IV, weitere erhalten Sozialtransfers in Form von Aufstockungszahlungen zu geringen Gehältern. Etwa ein Drittel der Berliner Kinder lebt in Armut (bundesweit etwa 15 Prozent).
Wie sieht die Berliner Stadtarmut genau aus? Nehmen wir das Quartier Wassertorplatz als Beispiel – Innenstadtlage, gute Verkehrsanbindung, typischer sozialer Wohnungsbau West der 60er- und 70er-Jahre: schlichte Platte, kaum Gewerbe, öde Straßenzüge. Die kleinteilige Statistik haut einen um: 80 Prozent Kinderarmut! Der Anteil der Empfänger von Sozialtransfers ist einer der höchsten der Stadt. Der „Aufmerksamkeitsbedarf“ ist offenkundig. Was kennzeichnet das Quartier noch? 72,7 Prozent der Bewohner haben einen Migrationshintergrund. Sie kommen aus 66 Nationen, die meisten haben ihre Wurzeln in der Türkei. Viele Kinder gehören der dritten Einwanderergeneration an. Die Jens-Nydahl-Grundschule meldet einen Migrantenanteil von 99 Prozent.
Das soziale, vom Monitoring beobachtete Problem stellt sich also nicht als unspezifische Armut, sondern als schief laufende Integration heraus. Was wir hier sehen, ist Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse. Aus gutem Grund müht sich das Quartiersmanagement vor allem im Bereich Bildung und Ausbildung.
Das Quartier Wassertorplatz ist ein zwar ärmliches, aber stilles, freundliches, vom Blaulicht der Polizei selten erleuchtetes Viertel – allerdings karg. Zur Stabilisierung, Belebung und Durchmischung könnte es durchaus Menschen mit ordentlichem Einkommen vertragen – ganz im Sinne der Neuköllner Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD), die der Gentrifizierung positive Seiten abgewinnen kann. Wenn es in der Stadt mehr gut bezahlte Jobs gibt, dürfen diese Gutverdiener auch zwischen Ärmeren wohnen. In der Ritterstraße bekommt das Wassertorviertel mit Mykita-Haus und Pastrami-Bistro gerade eine erste kleine Gentrifizierungsdosis.
Neu-Migranten in die schwächsten Viertel zu entlassen, wäre fatal
Der Berliner Sozialreport ermöglicht den Verantwortlichen der Stadt eine Fokussierung auf Drängendes, ein gezieltes Vorgehen, das effektiver ist als unspezifisches Ungleichheitsgejammer. Er fordert auf, Lehren aus Integrationsfehlern zu ziehen, und er ist in diesem Sinne auch Warnung. Die Neu-Migranten in die schwächsten Viertel zu entlassen, wäre ebenso fatal wie die Einrichtung neuer, absondernder Spezialquartiere.
Bislang wird vorwiegend die Exklusion gemanagt. So nett und freundlich das im Einzelnen mit Müttercafés und Boxkursen für Mädchen ist – es reicht nicht, um das Bevorstehende zu schaffen. Berlin hat eine weltweit einzigartige Erfahrung sozialer Durchmischung: In der gern geschmähten Mietskaserne lebten alle zusammen, begegneten sich täglich: der Geheimrat aus der Beletage und der Kutscher aus dem Hinterhaus. Das heißt heute, Viertel für Gentrifizierer zu öffnen, ein paar wenigstens.