Berlin-Neukölln: Wenn ein Neonazi nicht wegen rechtem Terror in Haft muss
Ein Neonazi wurde verurteilt, Grund zur Freude ist das nicht: Das Urteil zur rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln setzt den Wert von Menschenleben herab. Ein Kommentar.

Neonazi Sebastian T. kommt hinter Gitter. Nicht, weil er mindestens zwei Autos angezündet haben soll, wovon die Staatsanwaltschaft überzeugt ist. Auch nicht, weil er Menschen mit dem Tod an ihrem Wohnort bedroht hat. Und erst recht nicht, weil er den Nationalsozialisten Rudolf Heß verherrlichte und ein Banner an einer Schule abriss, auf dem sich die Schüler für Vielfalt aussprachen. Nein, es geht um Geld. Sebastian T. hat Vater Staat betrogen. Die rechtsextremen Sachbeschädigungen und Bedrohungen fielen bei der Gesamtstrafe von eineinhalb Jahren kaum ins Gewicht. Ohne den Betrug wäre Sebastian T. wohl ein freier Mann.
Die Richterin sprach den zweiten Hauptangeklagten im Prozess um die Neuköllner Anschlagsserie, Sebastian T., in Bezug auf die Brandanschläge am Dienstag frei. Sein mutmaßlicher Komplize ist bereits im Dezember freigesprochen worden. Verurteilt wurde Sebastian T. dagegen wegen Sozialbetrugs, er wohnte nicht in der Wohnung, die er sich vom Jobcenter bezahlen ließ. Eine Haftstrafe bekam er auch, weil er Corona-Soforthilfe beantragt hatte, obwohl er für sein kleines Unternehmen keine laufenden Kosten begleichen musste.
Die zwei Brandanschläge waren die letzten einer Serie. Mehr als siebzig rechtsextreme Straftaten, mindestens 23 Brandanschläge auf Autos und möglicherweise zwei Morde gehen auf das Konto des rechtsextremen Netzwerks in Neukölln. Ausgerechnet Neukölln, wo viele Betroffene rechter Gewalt wohnen, steht nun auch für rechten Terror. Das Vertrauen von migrantischen Menschen in Polizei, Justiz und Verfassungsschutz ist ohnehin erschüttert. Ein solches Urteil wird es weiter erschüttern.
In Bezug auf die Anschlagsserie gibt es Ungereimtheiten: Ein Polizist, der für die Ermittlungen im rechtsextremen Milieu in Neukölln zuständig war, soll wegen einer rassistischen Gewalttat verurteilt worden und weiter im Dienst sein. Ein anderer soll im Chat Polizeiinterna an Rechtsextreme weitergegeben haben. Ein dritter habe sich in Rudow mit einem Tatverdächtigen in einem rechtsextremen Szenetreff getroffen. Vieles in diesem Fall ist unklar. Ein Grund könnte sein, dass manche Sicherheitsbehörden die Anschläge gar nicht aufklären wollen.
Der Verfassungsschutz ist dafür da, die Betroffenen vor Menschen wie Sebastian T. zu schützen. Die Richterin wies den Antrag der Nebenklage, beim Verfassungsschutz weitere Informationen einzuholen, zurück. „Da würden wir ja in fünf Jahren noch hier sitzen“, sagte sie bei der Urteilsverkündung. Vielleicht ist das auch nötig, um ein rechtes Netzwerk restlos auszuhebeln. Das Berliner Abgeordnetenhaus hat einen Untersuchungsausschuss gegründet. Bei den Nachforschungen beklagten die Mitglieder, dass die Innen- und Justizverwaltung sich beim Liefern der Akten Zeit ließen.
Eine Information hat der Verfassungsschutz dem Gericht allerdings weitergegeben: Im Gefängnis erzählte der zweite Hauptangeklagte Thilo P. einem Mitinsassen, dass die Behörden ihm „jetzt auch noch wegen den anderen Sachen was anhängen“ wollen. Dabei habe er doch „nur Schmiere“ gestanden. Die Annahme liegt nahe, dass es um den Brandanschlag ging und Sebastian T. dementsprechend die Autos angezündet hat. Der Richterin reichte das nicht aus. Auch, dass Sebastian T. die Tat nicht dementierte, als ein Kamerad ihn darauf ansprach, überzeugt sie nicht.
Der Grund: die Observation. Wer monatelang observiert wird, müsste beim Anschlag oder der Planung erwischt werden. Die Richterin glaubt an Polizeiarbeit, im Gegensatz zu vielen, die von Rassismus betroffenen sind. Einige Protokolle weisen darauf hin, dass Sebastian T. von dem Abhören der Telefongespräche wusste. Vermutlich machte er deshalb keine zu großen Fehler.
Der Neonazi zoomte bei Google Maps nah an das Haus von Ferat Koçaks Eltern, hat das Kennzeichen von Kocaks Auto aufgeschrieben und ist ihm gefolgt. Wenig später ging das Fahrzeug des Politikers (Die Linke) in Flammen auf. Das alles kann auch Zufall gewesen sein, sagt das Gericht.
Im Zweifel für den Angeklagten. Das muss so sein. Die Justiz begreift die Anschläge aber nicht als Serie, sondern als einzelne Straftaten. Und so wird auch ermittelt. Um aufzuklären, müsste man die Sache umfassender angehen. Und würde vermutlich noch mehr Indizien und vielleicht sogar Beweise finden.
Keinen Zweifel hat das Gericht daran, dass Sebastian T. ein unverbesserlicher Neonazi ist, der Menschen zu Tode ängstigt, verletzt und Propaganda betreibt. Die Urteile zu Sachbeschädigungen in Tateinheit mit Bedrohung zeigen aber, dass die menschenfeindliche Einstellung, die politische Motivation und die Gefahr, die von diesem Mann ausgeht, die weiße Richterin wenig kümmern. Ist es überhaupt gerecht, 27 Fälle von Sachbeschädigung, drei Morddrohungen, zwei Brandanschläge und zwei Betrugsfälle in ein und demselben Prozess zu verhandeln? Die Gesamtstrafe sinkt dadurch.
Es tröstet kaum, dass der Angeklagte in Haft kommt, im Gegenteil: Es ist frustrierend, dass das Gewaltpotenzial durch das Nachstellen, die Glorifizierung eines massenmordenden Regimes und die Morddrohungen neben dem Betrug über ein paar Tausend Euro so wenig ins Gewicht fallen. Es setzt den Wert von Menschenleben herab.