Kommentar zu Identität: Ostler sind weder Opfer noch die Indianer Deutschlands

Neulich las ich in der Zeitung, dass ich angeblich einen Übersetzer brauche, um von meiner Umgebung verstanden zu werden beziehungsweise selber meine Umgebung, die Gesellschaft, die Politik zu verstehen. Ich als Ostdeutsche.

Ich sage schon lange nicht mehr Aktendulli, wenn ich Heftstreifen meine. Ich sage Supermarkt statt Kaufhalle. Ich habe über Geschichte der 68er-Bewegung gelesen und Filme über die RAF gesehen, um die historischen Bezugspunkte Westdeutschlands besser zu verstehen. Ich widerspreche Bekannten, die meinen, dass die Flüchtlinge daran schuld sind, dass sie zu wenig Rente oder Aufmerksamkeit bekommen.

Ich fühle mich gut integriert, ich lebe gern in Deutschland. Trotzdem gibt es offenbar ein Problem. Es gebe kulturelle Differenzen, sagt der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. Differenzen, die übersetzt werden müssten, damit die Ostler endlich die Demokratie besser verstünden. Welche Differenzen das genau sein sollen, führte Krüger nicht aus. Anlass seiner Äußerung war eine neue Studie über Eliten.

So redet man auch über Migrantenkinder

Darin heißt es, dass Ostdeutsche knapp drei Jahrzehnte nach der Einheit besonders in den Spitzenpositionen von Verwaltung und Justiz unterrepräsentiert sind. Die Eliten im Osten stammen überwiegend aus dem Westen. Krüger sprach in diesem Zusammenhang von einem kulturellen Kolonialismus durch die Westdeutschen.

Am Wort vom Kolonialismus blieb ich hängen. Krüger hat das sicher gut gemeint, er wollte damit vielleicht die Ostler verteidigen. Aber es klingt so paternalistisch, wie Ost-West-Debatten seit ihrer Erfindung klingen: die Westler sind die Täter, die Ostler die Opfer. Die Indianer Deutschlands. Das mag ja gut gemeint sein, aber es bedient genau die Denkweise, die das Ihr-Wir-Denken befördert und die den Ostler zum Fremden macht.

Wenige Tage nach dem Gespräch mit Krüger gab es ein Interview mit einem Politiker aus Sachsen-Anhalt, der ursprünglich aus dem Westen kam. Er sagte, Ostdeutsche müsste man gezielt fördern. Gezielt fördern? So redet man auch über Migrantenkinder, Hartz-IV-Empfänger und andere schwere Fälle.

Schwierige Nachwendejahre

Man sollte nicht denken, dass die Probleme zwischen Ost und West einfach weggehen, wenn nur genügend Ostler Chefs werden, dass es kein Problem mehr gibt mit Pegida und AfD, wenn alle Posten einer Landesregierung mit Ostlern besetzt sind. Die Vorstellung, dass Ostdeutsche besser darin seien, anderen Ostdeutschen Demokratie zu erklären, hat Stanislaw Tillich eindrücklich widerlegt. Der kürzlich zurückgetretene sächsische Ministerpräsident hat sein ganzes Leben in Sachsen verbracht.

Es wird in der Debatte oft übersehen, dass es das eine Ostdeutschland, den monolithischen Block, drei Jahrzehnte nach der Wende gar nicht mehr gibt. Die ostdeutsche Gesellschaft hat sich stark ausdifferenziert, in jüngere, eher in Großstädten anzutreffende Gruppen, die an einer progressiven, vielfältigen Gesellschaft interessiert sind und andere, die sich nicht verstanden fühlen und von der Globalisierung zurückgelassen fühlen.

All das ist schon diskutiert worden. Das ist das Ärgerliche an Krügers Kolonialismus-Keule und dem Blick auf Eliten: Die Debatte über den Osten war eigentlich gerade weiter. Nach dem Erfolg der AfD habe ich viel Differenziertes über die schwierigen Nachwendejahre gelesen.

Aufgabe für uns alle

Es wird langsam verstanden, dass das, was im Osten in den 90er-Jahren passiert ist, der massive Abbau von Arbeitsplätzen und sozialen Standards, nur ein Vorläufer war. Wenn man sich jetzt nur auf die Elitenfrage stürzt, dann verengt man die Ost-West-Debatte, die ja eine Debatte über Identität ist – und wer wir als Deutsche sein wollen.

Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, hat kürzlich geschrieben, wie verrückt es ist, dass nach der Vereinigung die Erfahrungen eines Landesteiles einfach weggeworfen wurden. Wie seltsam es ist, dass man sich zwar an Polikliniken, Impf-Pflicht, Zentral-Abitur in DDR erinnert – aber wenn man über Reformen spricht, ist es so, als hätte es diese alternativen Erfahrungen in Deutschland nie gegeben. Und wer es wagt, darüber nachzudenken, was an Altstoffverwertung und Vollbeschäftigung gut war, gilt gleich als Verteidiger von Stasi und Mauertoten.

Ich habe mehr Jahre meines Lebens im vereinigten Deutschland als in der DDR verbracht, ich möchte keinen Übersetzer, keine Therapie, keine Sonderbehandlung. Ich wünsche mir mehr Wertschätzung für andere Erfahrungen, den Willen, in Diskussionen auch mal eine andere Perspektive zuzulassen. Das wäre keine Aufgabe für Eliten, sondern für uns alle.