Kommentar zum Antisemitismus: In der Zivilgesellschaft regt sich Widerspruch

Eine jüdische Bekannte erzählt, dass sie in dieser Woche weder fernsieht, noch Zeitung liest. Sie schaltet auch das Radio nicht ein. Die Frau hat sich zurück gezogen aus der Welt für ein paar Tage. Sie verschließt sich, kompromisslos.

Was sie zu vermeiden sucht, sind Berichte über den 9. November 1938, die Pogrome an der jüdischen Bevölkerung, jene vom nationalsozialistischen Regime organisierten Gewalttaten gegen Juden im gesamten Deutschen Reich, die unter dem Namen Reichskristallnacht in die deutsche Geschichte eingegangen sind.

Die Furcht vor Ausgrenzung

Hunderte Menschen wurden in den Tagen, die folgten, ermordet oder in den Selbstmord getrieben. Synagogen, Geschäfte, Wohnungen, Friedhöfe wurden verwüstet. Von diesem Zeitpunkt an wurden jüdische Menschen im Reich in Konzentrationslagern inhaftiert. Die Tage im November gelten heute als Zeitpunkt, an dem die Diskriminierung einer Minderheit in systematische Verfolgung überging, der Beginn eines Vernichtungsfeldzugs, der in den Holocaust mündete.

Die Frau will das alles nicht mehr hören. Sie will auch keine Kommentare von Leuten hören, die die Shoa relativieren. Sie hat den Vogelschiss noch nicht verdaut. Als historischen „Vogelschiss“ hatte der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland im Sommer den Nationalsozialismus in Deutschland verharmlost. Die jüdische Bekannte betreibt eine Form von Wirklichkeitsverweigerung, der Angst zugrunde liegt. Sie fürchtet sich vor der Unterscheidung in ein IHR und WIR. Sie fürchtet sich vor Ausgrenzung. Sie ist vielleicht ein außergewöhnliches Beispiel, aber sie ist eine Stimme in diesem Land.

Antisemitismus ist wieder in unserer Gesellschaft zu finden

80 Jahre sind seit jenen Novembertagen 1938 vergangen. In diesem Jahr fällt das Gedenken der runden Zahl wegen entsprechend groß aus. Es gab schon am Donnerstag eine Gedenkstunde im Abgeordnetenhaus. Am Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurden die Namen der 55.696 Berliner Juden verlesen, die im Nationalsozialismus umgebracht wurden. Es werden Kränze niedergelegt. Der Bundespräsident hält eine Rede. Menschen unternehmen interreligiöse Feierstunden und einen Gedenkweg.

Aber es gibt noch andere Motive, diesmal besonders nachdrücklich auf diese furchtbaren Ereignisse hinzuweisen. Sie haben mit der Lage im Land zu tun. Gerade hat man den Eindruck, dass es um das Zusammenleben in Deutschland nicht besonders gut bestellt ist. Im zurückliegenden Jahr ist es in Berlin und auch andernorts zu vielen antisemitischen Übergriffen gekommen. Umfragen fördern eine judenfeindliche Haltung zutage, die in einem Ausmaß verbreitet ist, wie man es nicht für möglich gehalten hatte.

In der Zivilgesellschaft regt sich Widerspruch

Aber es gibt auch eine andere Seite. Ob es Gauland ist oder der Thüringer AfD-Mann Björn Höcke, der in Bezug auf das Holocaust-Mahnmal von einem Denkmal der Schande spricht, sofort gibt es Widerspruch. Und der ist vielfältig. Er kommt aus Zivilgesellschaft wie Politik. Auch der Staat handelt, indem er etwa einen Antisemitismusbeauftragten einsetzt. In Berlin sind an diesem Freitag rechtsextreme Demonstrationen verboten. Auch so ein Beispiel. Einen „Trauermarsch für die Toten von Politik“ wollte der Innensenator nicht genehmigen. Innensenator Andreas Geisel wollte das gruselige Bild vermeiden, dass Rechtsextremisten am 80. Jahrestag der Pogromnacht womöglich in der Dunkelheit mit brennenden Kerzen durchs Regierungsviertel marschieren.

Die jüdische Gesellschaft in Deutschland muss geschützt werden

Muss man also wirklich Angst davor haben, dass sich Geschichte wiederholt? Ist es nicht eher so, dass wir in einer Zeit leben, in der jede Aktion sofort eine Reaktion auslöst? So viel Widerspruch wie heute hat es noch nie gegeben. Es gibt keine schweigende Mehrheit. Jeder hat eine Stimme und man durchaus den Eindruck, dass die Menschen sie auch erheben.

Im Jahr 2018 gibt es in Deutschland wieder eine vielfältige jüdische Gesellschaft. Es existieren besonders fromme, traditionelle Gemeinschaften wie auch progressive Strömungen, die an der Erneuerung von Religion und Kultur arbeiten. Aber alle gemeinsam bilden sie eine sehr kleine Minderheit. Sie braucht besonderen Schutz. Gesellschaft und Staat bleiben in dieser Verantwortung.