Kommentar zum Tegel-Volksentscheid: Berlin braucht mehr von diesem Engagement
Die Berliner haben entschieden. Zum zweiten Mal in der Geschichte dieser Stadt durften sie über die Zukunft eines Flughafens abstimmen. Dem Wortlaut des Beschlussentwurfs zufolge ging es beim Tegel-Volksentscheid nur um eine rechtlich unverbindliche Aufforderung an den Senat.
Doch lange bevor am Sonntag die Stimmlokale öffneten, lange bevor die Hochrechnungen eintrafen, war klar: Das Thema Tegel hat längst enorme politische Wirkungen entfaltet. Es hat Turbulenzen entfacht, die nun weiter an Heftigkeit zunehmen und dem Senat schaden werden.
Zwar werden die Initiatoren und Unterstützer des Volksentscheids ihr Ziel nicht erreichen: dass der innerstädtische Flughafen offen bleibt, wenn der BER ans Netz geht. Aber das wird den anderen Effekten nichts von ihrer Wucht nehmen.
Die Berliner haben entschieden. Viele von ihnen waren allerdings schon lange aktiv, bevor sie am Sonntag ihre Kreuze auf die kleinen weißen Stimmzettel malten. Sie nahmen an einer stadtweiten Diskussion teil, die bislang im Sinne unserer Demokratie mustergültig abgelaufen ist. Und die den Wunsch wach werden lässt: mehr davon!
Das Reizthema TXL hat Gefühlswallungen provoziert
Die Frage, was aus Tegel wird, hat Menschen aus allen politischen Lagern aktiviert. Natürlich wurde auch grob geholzt, wurden Argumente verkürzt oder verzerrt ins Feld geführt. Doch unterm Strich war und ist dies eine Diskussion mit einer großen Breitenwirkung.
So gesehen ist es schade, dass es keinen Volksentscheid zum Fahrradverkehr geben wird. Denn auch die Diskussion über die Frage, wie Berlins Straßen in Zukunft aussehen sollen, hätte durch so eine Abstimmung an Tiefe und Tempo gewonnen.
Natürlich ging es vor dem Tegel-Volksentscheid nicht nur um Fakten – um die Entwicklung der Fluggastzahlen, um die Kapazität der BER-Gepäckanlagen und der Autobahnzufahrt zum Beispiel. Das Reizthema TXL hat auch Gefühlswallungen provoziert, die mit Luftverkehr nichts zu tun haben. Das Plebiszit hat gezeigt, wie die Berliner ticken.
Die Stadt erlebt einen Wandel, der von zahlreichen Einheimischen als bedrohlich empfunden wird. Häufig zu Recht. Darum wäre es zu kurz gegriffen, den Tegel-Fans Rückwärtsgewandtheit vorzuwerfen. Die Vehemenz, mit der viele vor allem in den Westbezirken für Tegel streiten, zeigt klar, dass sie sich in ihrer Identität betroffen fühlen.
Der Tegel-Volksentscheid zeigt die Versäumnisse des Senats
Vieles von dem, was zu Mauerzeiten die Identität West-Berlins geprägt hat, ist bereits verschwunden: In Tempelhof heben keine Flugzeuge mehr ab, im Bahnhof Zoo halten keine Fernzüge mehr. Die Deutschlandhalle: abgerissen. Die Staatlichen Schauspielbühnen im Schillertheater: abgewickelt. Nun soll auch der zweite Flughafen schließen – das Tor zur freien Welt, die Architektur-Ikone der 70er-Jahre. Ein Affront!
Und so zeigt der Tegel-Volksentscheid auch mit aller Härte, welche Versäumnisse sich der Senat zuschreiben muss. Ihm ist es nicht gelungen, die Bürger für sich zu gewinnen. Schon lange wirbt kein Regierungspolitiker mehr für den BER, der Tegel ersetzen wird. Das Projekt in Schönefeld, das für diese Region wichtiger ist als der Erhalt von TXL, geht unter im haustechnischen Kleinklein. Die Politiker zeigen keine Gefühle, weder gegen Tegel noch für den BER. Kein Wunder, dass da kein Funke übersprang.
Dabei hat der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) Mitstreiter nötiger denn je. Nach dem Volksentscheid wird die FDP, die Tegel aus parteipolitischem Kalkül zum Top-Thema gemacht hat, Müller vor sich hertreiben und in Erklärungsnot bringen. Dadurch wird die Angelegenheit nun an Sprengkraft gewinnen.
Dabei ist der rot-rot-grüne Senat längst in einer Zwickmühle: Egal, wie er handelt, er wird in jedem Fall Hunderttausende gegen sich aufbringen. Hält er am Schließungsplan fest, muss er sich vorhalten lassen, dass er den Bürgerwillen ignoriert. Knickt er ein, werden die Flughafen-Anwohner, die das Ende des Lärms herbeigesehnt haben, sauer auf ihn sein, weil er seine Zusage nicht einhält.
Die Berliner haben entschieden
Es wird sich zeigen, wie sich der Regierende aus der fatalen Lage herauswindet – und welchen weiteren Schaden er beim Umgang mit dem toxischen Thema erleidet. Nach Lage der Dinge werden die Flughafengesellschafter an der Schließung festhalten. Zwar wäre es juristisch im Prinzip möglich, Tegel weiter zu betreiben: Berlin und Brandenburg müssten die Landesentwicklungsplanung ändern.
Aber es wäre langwierig, unwägbar, mit Klagerisiken behaftet – nicht für Realpolitik geeignet. Müller würde sich von seinen Gegnern auf einen Dauerlauf durch ein Politik-Dickicht schicken lassen, den er spätestens vor Gericht nicht überleben würde. Er wird sich für das Aussitzen entscheiden müssen – oder er muss gehen.
Die Berliner haben entschieden. Ihr Votum wird nun weitere Wirkungen zeigen. Allerdings nicht die, für die am Sonntag viele Bürger ihr Kreuz gemacht haben.