Kommentar zur drohenden Verweigerung von Bundeswehr-Mandat: Mit Augenmaß für die Türkei
Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier wussten, was sie taten, als sie an jenem Tag im Juni ihre Pflichten als Abgeordnete des Deutschen Bundestags vernachlässigten und der Abstimmung über die Drucksache 18/3613 fernblieben. Ob sich das auch von der Mehrheit des Hohen Hauses behaupten lässt, die für die Resolution mit dem Titel stimmte: „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916“? Der Bundestag kann in die Politik eines souveränen Staates nicht eingreifen. Aber die Offiziellen der Türkei durch den Rückgriff auf ein fragwürdiges Kapitel der Geschichte international moralisch vorführen – das geht.
Die Resolution kommt dem berühmten „Stinkefinger“ gleich. Nur in feierlicher Form: Du willst auf unsere Kritik nicht reagieren, also zeigen wir dir, was wir noch draufhaben! Nun hat die Geste eine Krise zwischen zwei nicht eben unwichtigen Staaten der Nato heraufbeschworen. Zwischen Berlin und Ankara, in der Region jenseits des Bosporus, im Umgang der Nato nicht bloß mit der Türkei, sondern darüber hinaus mit Russland. An einem Ausweg wird gearbeitet: Sicher in Berlin, wahrscheinlich auch in Ankara.
Dabei geht es nicht bloß um den Umgang zweier trotz aller Krisen nach wie vor befreundeter Staaten miteinander. Es geht auch um das Verhältnis von Regierung und Parlament in Deutschland, genauer: um den Umgang der Regierungsparteien mit ihrer Regierung.
Erdogan auf seinem ureigensten Terrain angegriffen
Selbst als die Grünen sich in der Koalition mit der SPD unter Schmerzen von ihrem Pazifismus verabschiedeten, haben sie den ungeliebten Auslandseinsätzen der Bundeswehr nie ihre Zustimmung verweigert. Nun droht SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann mit einem Nein zum Mandat zur Stationierung deutscher Soldaten am Nato-Stützpunkt Incirlik, falls die türkische Regierung deutschen Verteidigungspolitikern weiter einen Besuch bei der dortigen Truppe verweigern sollte.
Das deutsche Parlament hat Erdogan auf seinem ureigensten Terrain angegriffen: der Geschichtspolitik. Nun schlägt dieser auf einem spezifisch deutschen Feld zurück: der Einbeziehung des Bundestags in außenpolitische Entscheidungen, insbesondere der Legitimierung von Einsätzen der Streitkräfte. International ein Unikum. Und in Deutschland nicht unumstritten. Gerade konservative Politiker möchten den Einfluss des Parlaments zugunsten der Regierung zurückschneiden.
Was hätte Helmut Schmidt davon gehalten?
Was wohl Helmut Schmidt von der Affäre gehalten hätte, der von Menthol umwölkte Kuschelkaiser der Deutschen? Einen Beitritt der Türkei zur EU hat er stets abgelehnt. Aber er war auf den Zusammenhalt der Nato bedacht. In seinen aktiven Zeiten konnte Schmidt ziemlich grob werden, wenn er Gesinnungsethiker am Werk sah, z. B. unter den Gegnern der atomaren Nachrüstung der Nato Anfang der 80er-Jahre. Schmidt setzte dagegen mit seinem Mastermind Max Weber auf die Verantwortungsethik.
Unfeierlich formuliert: Wenn es um die Interessen des Staates geht, müssen Politiker moralisch schon mal mindestens drei von Fünfen gerade sein lassen. Mit dem Augenmaß ihrer Erfahrung – was immer das in einem konkreten Fall heißen mag.
Innenpolitisch unterscheidet sich die aktuelle Lage dramatisch von der in den Anfangszeiten der rot-grünen Koalition. Damals wollte die Führung der Grünen um Joschka Fischer partout beweisen, wie staatstragend die Partei inzwischen geworden war. In der Endphase der dritten großen Koalition in der Geschichte der Republik (der zweiten unter Merkel) nutzt die SPD, diesmal in der Rolle des Juniorpartners, jede Gelegenheit, um sich zu profilieren. Am liebsten links, noch besser zulasten der Kanzlerin, die qua Amt zu bündnispolitischer Freundlichkeit gegenüber dem Nato-Partner verpflichtet ist. Nicht zufällig wird der Konflikt von den übrigen Partnern mit Schweigen bedacht.
Zum Augenmaß à la Max Weber zählt die genaue Abwägung, wann in der Politik die öffentliche Geste angebracht ist – und wann das diskrete Handeln jenseits der Kameras und Mikrofone. Die Resolution des Bundestags nicht für der Weisheit letzten Schluss zu halten, heißt keineswegs, zum Appeasement gegenüber Erdogan aufzurufen. Aber Differenzierung ist nötig. Und möglich. Sigmar Gabriel hat gerade Selbstkritik geübt, weil die deutsche Regierung der türkischen nach dem gescheiterten Putsch nicht genügend Solidarität erwiesen habe. Der Mann weiß offenbar, wann ein „Stinkefinger“ angebracht sein könnte – und wann nicht.