Konferenz: Wie haben geschichtliche Narrative den Krieg in der Ukraine beeinflusst?

In Berlin lädt eine Konferenz dazu ein, europäische Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine zu diskutieren. Stimmen aus 15 europäischen Ländern sind dabei.

Ein ukrainischer Soldat in der Nähe der ukrainischen Stadt Bakhmut.
Ein ukrainischer Soldat in der Nähe der ukrainischen Stadt Bakhmut.Libkos/AP

Ob Zweiter Weltkrieg, der Zerfall der Sowjetunion oder Eroberungen aus vergangenen Jahrhunderten – seit Jahren setzt der russische Präsident Wladimir Putin gerne seine eigenen Interpretationen der Geschichte ein, um seine Innen- sowie Außenpolitik zu rechtfertigen. In Europa hätten diese für Desinformation und Propaganda gesorgt, es hätte an differenzierten Perspektiven gegenüber den Ländern gefehlt, die Russland angegriffen hat – was sich schließlich in Kriegszeiten dringend ändern müsste. Das sind einige der Thesen, die bis Freitag im Berliner Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung und Versöhnung auf einer dreitägigen Konferenz diskutiert werden.

Veranstaltet wird die Konferenz „The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia’s War against Ukraine“ von dem Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität – ein 2005 gegründetes Projekt Deutschlands, Polens, der Slowakei und Ungarns, das seinen Sitz in Warschau hat –, zusammen mit dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Nicht nur deutsche Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sollen dabei abgebildet werden; Referentinnen und Referenten aus 15 Ländern sind eingeladen, um die unterschiedlichen Sichtweisen ihrer Länder dazustellen. Ziel der Organisatoren ist es, dass ein Austausch darüber entsteht, was man in Europa voneinander lernen kann – oder muss.

Geschichte darf nicht politisiert werden

Russische Propaganda und fehlendes Interesse über die Ukraine in Europa hätten einen großen Beitrag dazu geleistet, dass Länder wie Deutschland die Situation, die zur russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar letzten Jahres geführt hat, nicht begriffen haben, meinte Andrii Portnov, Professor für ukrainische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina. Er plädiert für einen stärkeren Fokus auf die ukrainische Geschichte als akademischen Fachbereich, um solchen Narrativen entgegenzuwirken. „Es geht nicht darum, Russland zu canceln, sondern das bestehende Feld der sowjetischen, polnischen, jüdischen, osmanischen und russischen Studien zu überdenken und zu erweitern“, so Portnov.

Es sei auch wichtig, so der Historiker, der aus dem ukrainischen Dnipro stammt, dass Wissenschaftler den „radikalisierenden“ Auswirkungen des Krieges widerstehen und für neue Perspektiven offen bleiben – und sich dagegen wehren, dass die Geschichte als „politische Notwendigkeit“ genutzt wird. So beschreibt er den Beschluss des Bundestages vom vergangenen Jahr, den Holodomor, die Hungersnot in der Ukraine von 1932/33, als Völkermord anzuerkennen.

Was hätte man über Russland wissen müssen?

Die besprochenen „Perspektiven“ der Konferenz beschäftigen sich nicht mit Argumenten über russische Rechtfertigungen des Krieges in der Ukraine oder das Verständnis für Wladimir Putin – der etwa in einem Essay 2021 argumentierte, Ukrainer und Russen seien historisch ein Volk, eine Nation. „Wir versuchen hier, eine Grenze zu ziehen zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Geschichte der Ukraine und den Lügen – zum Beispiel, dass es 2014 keine Invasion der Krim gab“, sagte Volker Weichsel, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa. „Zu sagen, es gibt keine Wahrheit und nur Perspektiven und Interpretationen, ist sehr gefährlich.“

Weichsel moderierte das erste Panel des Tages. Dabei stellten sich die Akademiker Guido Hausmann (Deutschland) und Marek Cichocki (Polen) zusammen mit dem Journalisten Martin Simecka (Slowakei) die Frage: „Was hätten wir über Russland und die Ukraine vor dem Krieg wissen sollen?“ Hausmann, Professor an der Universität Regensburg, sagt wie auch Andrii Portnov, es habe an Lehrstühlen für ukrainische Geschichte gefehlt – aber auch deutsche Perspektiven auf Russland seien zu stark von „Wunschvorstellungen“ geprägt worden.

„Man habe sich darauf eingelassen, dass sich Russland in den 1990er-Jahren zu einer Demokratie mit westeuropäischen Werten entwickelt habe“, meinte er. Gleichzeitig habe Putin die imperialistische Tradition der russischen Geschichte durch Eingriffe in Georgien, Moldawien und schließlich auch in der Ukraine durchgesetzt.

Weitere Themen aus den verbleibenden Tagen der Konferenz:
  • Denkmuster und Stereotypen in der europäischen Wahrnehmung auf Russland und die Ukraine (Donnerstag, 11.30–13 Uhr)
  • Die Rolle der Kultur und der Kunst im Vorfeld des Angriffskrieges (Donnerstag, 14–15.30 Uhr)
  • Strategien für die Bekämpfung von Desinformation (Freitag, 11.30–13 Uhr)

„Nord Stream 2 war ein falsches Signal“

Die Lösung für eine Verbesserung des europäischen Verständnisses gegenüber Russland, die der slowakische Journalist Martin Simecka angesprochen hat, ist einfach: Mehr auf einander hören – und zwar vor allem auf die Menschen in der Ukraine. „Im Jahr 2009 gab es einen offenen Brief an Barack Obama von ehemaligen Präsidenten Mittel- und Osteuropas wie Václav Havel und Lech Walesa. Sie warnten, dass er die russische Bedrohung nicht ausreichend erkannt habe“, so Simecka. „Im Westen hieß es, diese alten Dissidenten leben in der Vergangenheit und haben nichts verstanden.“

Er gibt aber zu, auch in der Slowakei (und früher in der Tschechoslowakei) habe man sich nicht so sehr für die Ukraine interessiert, trotz geografischer Nähe. Das zu ändern, müsse eine gemeinsame europäische Aufgabe werden – vor allem im Vorfeld eines möglichen künftigen EU- und Nato-Beitritts der Ukraine. Die polnische Politikwissenschaftlerin Anna Kwiatkowska sprach dazu im zweiten Podiumsgespräch. Sie sagte, vor allem Deutschland habe bis dahin viele Denkfehler zu reflektieren – und zwar nicht nur gegenüber der Ukraine.

„Nord Stream 2 war ein Signal an Putin, er könne einfach so weitermachen – trotz seiner Angriffe in Syrien, Donbass und auf seine Gegner, wie etwa im Falle des Tiergartenmordes“, so Kwiatkowska. Dabei hat Deutschland nicht nur gegen die Interessen der Ukraine gehandelt, sondern auch gegen die Interessen seiner Nachbarländer wie etwa Polen. Sie hofft, durch die vielbesprochene „Zeitenwende“ Deutschlands sei eine Aufarbeitung dieser Fehler endlich im Gange.

Die Konferenz „The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia’s War against Ukraine“ findet noch bis Freitag, den 10. Februar, im Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ (Stresemannstraße 90, 10963 Berlin) statt. Alle Podiumsgespräche werden live auf YouTube übertragen. Das ganze Programm finden Sie hier.

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