Herr Rogulski, warum schauen Polen und in der DDR Geborene so anders auf Russland?

In Berlin diskutiert eine Konferenz europäische Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine. Wir sprachen mit ihren Organisatoren über das Konzept dahinter.

Rafal Rogulski, Direktor vom Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität und einer der Organisatoren der Konferenz „The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia’s War against Ukraine“.
Rafal Rogulski, Direktor vom Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität und einer der Organisatoren der Konferenz „The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia’s War against Ukraine“.Mihkel Maripuu/imago

„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“: Alles Themen, bei denen man glaubt, sie gehörten in eine andere Zeit. Doch im Dokumentationszentrum in der Stresemannstraße, das genau diesen Themen gewidmet ist, geht es in der Konferenz „The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia’s War against Ukraine“ um die Gegenwart. Es geht darum, zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass noch in diesem Jahr ein brutaler Krieg in Europa herrscht.

Hätte der Krieg verhindert werden können, wenn wir ein differenzierteres Verständnis der verschiedenen europäischen Perspektiven auf die Geschichte gehabt hätten? Die Organisatoren der Konferenz – das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität (ENRS), das Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) und die Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung (SFVV) – hoffen darauf, dass die Konferenz den Anfang einer Debatte zu diesen Fragen anstoßen kann. Über den Inhalt der Konferenz hat die Berliner Zeitung mit Rafal Rogulski (Direktor des ENRS), Matthias Weber (Direktor des BKGE) und Gundula Bavendamm (Direktorin der SFVV) gesprochen.

Berliner Zeitung: Herr Rogulski, erklären Sie unseren Lesern: Wie sind Sie auf die Idee zu dieser Konferenz gekommen?

Rafal Rogulski: Die ursprüngliche Idee kam von Professor Matthias Weber, den deutschen Koordinator des Netzwerkes. Schwerpunkte und Hauptfragen haben wir in unseren internationalen Steering Committees besprochen. Das Thema bietet sich an. Wir wollen die katastrophalen Fehler, die vor allem westeuropäische EU-Ländern gegenüber Russland und der Ukraine in den letzten Jahrzehnten begangen haben, und deren schmerzhafte Konsequenzen diskutieren. Vielleicht haben wir noch die Chance, aus diesen Fehlern etwas zu lernen.

Was sind die Schwerpunkte der Konferenz?

Rogulski: Wir haben bei der Organisation dieser Konferenz die Tatsache berücksichtigt, wie unterschiedlich die Herangehensweisen zu Russland in den Ländern der Europäischen Union sind. Die früheren engen Beziehungen zu Russland sind auch Teil der Gründe, warum wir und vor allem die Ukrainer jetzt die schrecklichen aktuellen Ereignisse miterleben müssen. Es ist einfach notwendig, das zu diskutieren – das werden sicherlich schmerzhafte, manchmal sehr traurige Diskussionen sein, weil wir über große Fehler sprechen werden, die Politiker in unterschiedlichen Ländern gemacht haben.

Warum ist der Blick auf Russland in Polen so anders als in Deutschland? Die DDR war doch ebenso ein Satellitenstaat der Sowjetunion.

Rogulski: Dies ist ein sehr komplexes Problem, das mit der jahrhundertealten Geschichte der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen zu Russland und dann zu den Sowjets zusammenhängt. Unsere Erfahrungen sind unvergleichbar. Für die Polen war Russland meistens ein Feind, ein Besatzer, für die Deutschen war es ein Verbündeter. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Teilung Polens am Ende des 18. Jahrhunderts durch Preußen, Russland und Österreich war ein polnisches Trauma. Oder als Polen 1939 nach dem Hitler-Stalin-Pakt von den Deutschen und den Sowjets am 1. und 17. September angriffen wurde – und dann ein viertes Mal aufgeteilt wurde.

Noch tiefer wurde Polen durch die russische Aristokratie in zaristischen Zeiten geprägt, die weitgehend deutscher Herkunft war, Katharina die II. war selbst Deutsche. Die DDR entstand aus der sowjetischen Besatzungszone des Verlierers Deutschland heraus, der gleichzeitig durch die Sowjets befreit wurde – die Sowjetunion bestimmte also weitgehend die Beziehungen. Dann kam noch Gorbatschow der Held, der die deutsche Einheit ermöglichte. In Polen wurden die Russen und die Sowjets immer meistens als diejenigen gesehen, die uns unsere Freiheit genommen haben und die es jetzt gerne wieder tun würden.

Gundula Bavendamm: Vor allem die Geschichte der sowjetischen Armee als Befreier Deutschlands vom Nationalsozialismus ist noch sehr lebendig im Denken bei vielen Menschen, und das ist ja auch nicht falsch. Aber ich glaube, es gibt auch diese Schichten der Erinnerung, es gibt blinde Flecken, es gibt nationale Perspektiven. Die Genese solcher Denkhaltungen zu erklären, ist auch eine wichtige Funktion – das wollen wir auch auf dieser Konferenz tun.

„Russland nutzt Europas unterschiedliche Herangehensweisen aus“

Haben vor allem die Deutschen die Gewalt Russlands unterschätzt?

Bavendamm: Diese Frage muss man wohl leider mit Ja beantworten. Das tun ja auch die politischen Eliten in Berlin, vielleicht nicht alle laut und öffentlich, aber dass man in einem Reflexionsprozess darüber ist, was die deutsche Russlandpolitik in den letzten Jahren gemacht beziehungsweise nicht gemacht hat, das ist für mich offensichtlich.

Rogulski: Deswegen machen wir auch diese Konferenz. Nicht, weil wir ganz unterschiedlich über das Thema denken, sondern weil wir gemerkt hatten, dass die Unterschiede bei unseren Herangehensweisen zum Teil von Russland ausgenutzt werden.

Matthias Weber: Es gibt natürlich einen sehr spezifischen Diskurs über die Vergangenheit in Deutschland. Dieser Diskurs ist von einer starken Fokussierung auf Westeuropa geprägt, die Auseinandersetzung mit Osteuropa war sehr schwach, und dieses Wissensdefizit wollen wir auch durch diese Konferenz ausgleichen. Der Geschichtskurs in Deutschland ist aber auch ganz stark geprägt von dem Bewusstsein der Schuld, die Deutschland im Nationalsozialismus auf sich geladen hat. Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg fürchterliche Schandtaten in Polen, in Russland und auch in der Ukraine begangen und das prägt natürlich auch die besondere Situation des Diskurses in Deutschland bis in die Gegenwart. Mit dieser Konferenz wollen wir auch ein Zeichen der wissenschaftlichen Solidarität mit der Ukraine setzen. Wir haben Referenten aus 15 europäischen Ländern und wir sind unterschiedlicher Positionen, aber zusammen befinden wir uns im demokratischen Diskurs gegen Totalitarismus.

Es gibt auch Referenten aus Russland. Warum war es Ihnen wichtig, auch russische Perspektiven in dieser Konferenz abzubilden?

Bavendamm: Auch damit wollten wir ein Zeichen setzen. Irina Scherbakowa von Memorial, Träger des Friedensnobelpreises 2022, ist dabei, andere Referentinnen oder Referenten sind gerade im Exil. Es ist ganz wichtig, dass man differenziert mit Russland umgeht. Wir müssen ganz klar diesen Angriffskrieg verurteilen und uns solidarisch mit der Ukraine zeigen auf allen möglichen Ebenen. Aber man kann die ganze russische Gesellschaft nicht über einen Kamm scheren. Es gibt Menschen, die unter sehr, sehr schwierigen Bedingungen ihre Stimme gegen dieses System erheben und mit denen man den Kontakt halten muss, nämlich auch für die Zukunft.

In diesem Jahr erleben wir schon wieder die Geschichte von Krieg und Vertreibung in Europa. Haben wir gar nichts aus der Geschichte gelernt?

Rogulski: Wir haben sicherlich zu wenig gelernt. Deutschland, Frankreich und andere westliche Länder haben katastrophale Fehler begangen, indem sie nicht auf die Warnungen der Länder hörte, die schlechte Erfahrungen mit Russland gemacht haben und Projekte wie Nord Stream 2 einfach fortgesetzt haben. Der ehemalige polnische Präsident Lech Kaczynski wird jetzt sehr oft zitiert, der 2008 nach Georgien kurz vor der russischen Invasion reiste und sagte: „Was die Russen jetzt hier machen, ist nur der erste Schritt. Dann kommt die Ukraine, dann kommen die baltischen Länder und dann vielleicht auch Polen.“ Damals wurde das in Deutschland belächelt.

„Wir haben viele rassistische Denkmodelle noch nicht überwunden“

Weber: Genau diese Frage steht auf dem Programm: Was hätten wir wissen müssen? Wir stehen vor der Situation, dass die von Deutschland bewirkte Politik, die europäische Sicherheit und Frieden nämlich durch die Verdichtung von Beziehungen, den Austausch und die wirtschaftliche Kooperation zu stabilisieren, deutlich nicht funktioniert hat. Wir werden daraus lernen müssen.

Bavendamm: Lernen aus der Geschichte wollen wir, aber es passiert nicht immer. Man sieht in unserer Ausstellung, dass das rassistische Denkmodell, dass eine Gruppe mehr wert als eine andere ist, uns spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und ganz besonders stark seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts begleitet. Das sitzt sehr tief und wir haben das leider noch nicht überwunden.

Weber: Ich verstehe diese Tagung auch als einen Beitrag dazu, künftig den Dialog zwischen Deutschland und den östlichen Partnern zu intensivieren, damit wir mehr aufeinander hören. Wir haben bisher zu wenig aufeinander gehört, auch wir Deutschen haben nicht genug ernst genommen, was unsere Nachbarn gesagt haben. Wir wollen ganz dezidiert den gemeinsamen Dialog aufnehmen und wir beginnen hier einen europäischen Dialog auf einem neuen Level.

Sehen Sie durch die europäischen Reaktionen auf diesen Krieg Chancen für Verständigung zwischen Deutschland und anderen Ländern, die „unterschiedliche Herangehensweisen“ gegenüber diesem Krieg haben?

Rogulski: Es wäre sinnvoll, dass wir uns verstehen, aber die deutschen und polnischen Gesellschaften zum Beispiel wissen voneinander wirklich sehr, sehr wenig. Da hat sich in den letzten Jahren nicht viel verändert und ich sehe auch kein großes Interesse in Deutschland an Polen und an polnischer Geschichte. Das zeigen auch die Umfragen; 60 Prozent der Deutschen haben keine Ahnung, wie viele Polen im Zweiten Weltkrieg gestorben sind. Aber eine Chance gibt es auf jeden Fall.

Bavendamm: Ich sehe da auf jeden Fall eine Chance, dabei ist eine wichtige Ebene die zwischenstaatliche. Wir diskutieren jetzt die Frage, wie der Angriffskrieg in der Ukraine beendet werden kann. Irgendwann muss man wieder miteinander sprechen, ob man will oder nicht; diese Kanäle sollte man offen halten.

Weber: Wir haben nur dann eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft, wenn wir die Solidarität in Europa stärken. Wir haben uns in der Vergangenheit sehr viel in den bilateralen Diskussionen verzettelt – jetzt müssen wir uns aber zusammen mit unseren östlichen Partnern stärker vernetzen und stärker aufeinander hören. Wer soll sich sonst um unsere Interessen kümmern, wenn nicht wir Europäer selbst? Dann müssen wir selbst unsere zwischenstaatlichen Differenzen ausgleichen und dürfen nicht zulassen, dass andere diese benutzen, um uns zu schwächen.

Die Konferenz „The Politics of Memory as a Weapon: Perspectives on Russia’s War against Ukraine“ findet noch bis Freitag, den 10. Februar, im Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ (Stresemannstraße 90, 10963 Berlin) statt. Alle Podiumsgespräche werden live auf YouTube übertragen. Das ganze Programm finden Sie hier.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de