Kritik an SPD-Fraktionschef Raed Saleh: Abgeordnete rechnen mit ihrem Vorsitzenden ab
Berlin - Der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzende Raed Saleh, im Amt seit 2011, gerät unter überraschend heftigen Druck. Mit einer beispiellos kritischen Abrechnung hat ihn gut ein Drittel der Fraktionsmitglieder jetzt per Brief aufgefordert, seine Führungsaufgaben als Vorsitzender zu erledigen und die Fraktion inhaltlich besser aufzustellen als bisher. Unterschrieben haben den Brief drei von fünf stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden – nämlich Susanne Kitschun, Clara West und Andreas Kugler –, dazu knapp ein Dutzend Fachpolitiker aus verschiedenen Bezirken und Parteiflügeln. Senatsmitglieder sind nicht unter den Unterzeichnern, allerdings haben auch schon der Regierende Bürgermeister Michael Müller und etwa Gesundheitssenatorin Dilek Kolat offen oder intern Kritik an Salehs Arbeit und seinen Auftritten geübt.
Saleh vernachlässige seine Pflichten
Das fünfseitige Schreiben ging am Mittwoch an Saleh und sämtliche anderen Fraktionsmitglieder. Der Erfolg der rot-rot-grünen Koalition, heißt es dort, sei kein Selbstläufer. "In dieser Situation brauchen wir einen Fraktionsvorsitzenden, der sich zu einhundert Prozent einbringt und dafür sorgt, dass die Fraktion an einem Strang zieht und ihr volles Potential abrufen kann!" Saleh leiste dies jedoch bisher nicht. Er mache in der Öffentlichkeit durch Namensartikel in Zeitungen und eine Buchpublikaktion ("Ich, deutsch") auf sich aufmerksam, vernachlässige aber seine eigentlichen Pflichten. "Leider sind wir als einzige Fraktion regelmäßig bei zentralen politischen Veranstaltungen nicht durch Dich als unseren Vorsitzenden vertreten." Als Beispiele werden etwa Gedenkveranstaltungen zum Mauerbau oder zum Holocaust genannt, wo Salehs Platz leer bleibe. Auch in Plenarsitzungen sei die SPD "regelmäßig die einzige Fraktion, bei der weder der Vorsitzende noch der Parlamentarische Geschäftsführer auf seinem Platz sitzt und der Debatte folgt." Parlamentarischer Geschäftsführer ist der Jurist Torsten Schneider, seit Anbeginn Salehs Vertrauter.
"Solche Organisationsprobleme können wir uns nicht leisten."
Selbst in Senatssitzungen fehle Saleh wiederholt, Vertreter würden nicht darüber informiert. Oft gebe es mit dem Senat daher "gar keine Zusammenarbeit, häufig sogar ein Gegeneinander", stellen die Kritiker fest. "Solche Organisationsprobleme können wir uns nicht leisten." Als Beispiel wird die Tegel-Debatte genannt, bei der die SPD-Fraktion im Gegensatz zur Partei und einzelnen Mitgliedern "praktisch nicht in Erscheinung getreten" sei. Zudem sei die Öffentlichkeitsarbeit schlecht, die Facebookseiten manchmal wochenlang inaktuell und nicht moderiert, auf Twitter gebe es gar keine Aktivität der Fraktion.
Schärfer noch wird der Ton beim Thema interne Kommunikation. "Jeder von uns kennt Deine Bitte, ein Thema nicht in der Fraktion, sondern vertraulich mit Dir und Torsten zu besprechen oder mit der Thematisierung noch zu warten." Gleichzeitig würde Saleh aber eigene Schwerpunkte gern über die Medien verbreiten. Die Folge sei mangelnde Diskussionskultur in der Fraktion, schlechte Stimmung und üble Nachrede statt offener inhaltlicher Debatten. Es sei "zu unklar", für welche Themen die SPD-Fraktion innerhalb der rot-rot-grünen Koalition stehe, auch etwa zur laufenden Haushaltsdebatte, bei der es im Gegensatz zu anderen Fraktionen im Parlament keinen Austausch über die Schwerpunkte der SPD gegeben habe. "Das muss sich ändern!"
Saleh spreche stets von einer "starken Fraktion"
Die 14 Fraktionäre fordern eine verantwortliche Führung von Saleh ein. Dazu gehört "für uns, dass Du und unser Geschäftsführer für alle Abgeordneten erreichbar seid." Stattdessen blieben manche Fraktionäre teils wochenlang oder sogar ganz ohne Antwort. Saleh spreche stets von einer "starken Fraktion", löse dies aber in der Praxis nicht ein. "Wir alle in der Fraktion tragen diese Verantwortung für unsere politische Arbeit. Du bist seit sechs Jahren unser Vorsitzender und darfst den Erfolg Deiner Arbeit nicht am Spandauer Wahlergebnis messen." Damit wird auf Salehs öffentlichen Appell angespielt, die SPD dürfe keine "Staatspartei" sein und müsse den Menschen wieder mehr zuhören, so wie er es in seinem Heimatkreis Spandau mache – wo die SPD bei den vergangenen Wahlen weniger verlor als im Berliner Durchschnitt.
Hälfte der SPD-Fraktion gegen Saleh
Auch die kürzliche, kaum verhohlene Rücktrittsaufforderung von zwei Abgeordneten an Michael Müller (beide haben den Brief nicht unterzeichnet) wird thematisiert. "Zu guter Führung gehört für uns auch, dass Du Dich unmittelbar und klar positionierst, wenn Kolleginnen und Kollegen den Rücktritt von Michael Müller fordern." Saleh hatte die Kritik, die er vorab gekannt haben dürfte, als diskussionswürdig bezeichnet, sich aber weder gegen noch für Müller positioniert.
Die Unterzeichner wollen ihre Kritik am kommenden Dienstag in der Fraktion "intern" diskutieren, wie es hieß. Man müsse das schlechte Wahlergebnis ehrlich aufarbeiten, die Themensetzung strukturieren, die Pressearbeit verbessern. Wie es weitergeht, ist noch unklar. Der 40-jährige Raed Saleh ist im vorigen Jahr mit rund 90 Prozent im Amt bestätigt worden. Eine turnusmäßige Neuwahl der Fraktionsspitze stünde erst 2018 an. Einen Gegenkandidaten gab es bisher nicht. Zählt man allerdings die Saleh-kritischen Senatsmitglieder sowie den Parlamentspräsidenten Ralf Wieland zum Unterzeichner-Lager dazu, steht inzwischen die Hälfte der SPD-Fraktion gegen ihren amtierenden Vorsitzenden.
Saleh zeigte sich in einer ersten Reaktion am Mittwoch offen für die Kritik und erklärte, der Brief sei "sehr willkommen". Die SPD befinde sich einer schwierigen Phase, sagte er: "Selbstverständlich werden wir auch in der Fraktion breit diskutieren, wie wir gemeinsam besser werden können."