Lange Nacht der Wissenschaft: Steinkorallen – Das Wissen der Methusalems
Steinkorallen sind gemütliche Wesen. Die farbenprächtigen Tiere verbringen ihr ganzes Leben am gleichen Ort und wachsen im Jahr allenfalls ein paar Zentimeter in die Höhe und Breite. Dafür werden sie alt, uralt sogar.
„Viele der von uns untersuchten Tiere haben schon die Zeiten von Christoph Kolumbus miterlebt“, sagt Reinhold Leinfelder, der Leiter der Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung am Institut für Geologische Wissenschaften der Freien Universität (FU) Berlin. „Und manche von ihnen waren sogar schon damals wahre Methusalems.“ Bis zu 2000 Jahre alt können Steinkorallen werden.
Forscher wie Leinfelder versuchen daher, den Korallen ihr Wissen über längst vergangene Zeiten zu entlocken – mit dem Ziel, die weltweit bedrohten tropischen Flachwasserriffe künftig besser schützen zu können. Dazu bohren die Wissenschaftler aus den mächtigen Kalkgerüsten der Steinkorallen, die die Lebensgrundlage für eines der artenreichsten und farbenfrohesten Ökosysteme der Erde bietet, mehrere Meter lange, schmale Zylinder heraus und untersuchen sie anschließend im Labor.
Informationen über die Vergangenheit
Bestrahlt man die Bohrkerne mit ultraviolettem Licht, ist zu erkennen, dass die Korallen ganz ähnlich wie Bäume Jahresringe ausbilden: Helle und dunkle Linien wechseln sich miteinander ab.
„Bekommen die Korallen mehr Sonnenlicht ab, sind ihre Untermieter aktiver – einzellige Algen, die die Korallen per Fotosynthese mit Energie versorgen und ihnen im Übrigen auch ihre Farben verleihen“, erläutert Leinfelder. „Dadurch wachsen die Korallen schneller und ihr Verkalkungsmuster ist ein anderes.“
Die Forscher können auf diese Weise erkennen, wann und wie häufig die Sonne in den vergangenen Jahrhunderten geschienen hat, oder auch, ob beispielsweise ein übermäßiger Algenbewuchs oder aufgewirbelte Sedimente den Riffen zeitweise das Licht geraubt haben.
Korallen sind die besten Datenlieferanten
Rückschlüsse lassen sich aber nicht nur auf die Lichteinstrahlung ziehen. Noch wichtiger, gerade in Anbetracht des Klimawandels, ist es den Wissenschaftlern, Erkenntnisse über die Meerestemperaturen früherer Zeiten zu gewinnen. „Wenn wir wissen, welchen Temperaturen die Korallen in der Vergangenheit ausgesetzt waren und wie sie damit klargekommen sind, können wir viel bessere Aussagen darüber treffen, wie die Riffe die künftige erwartete Meereserwärmung überstehen werden“, sagt Leinfelder.
Auch für die Klimaforschung an sich sind Daten über frühere Entwicklungen unentbehrlich. „Je genauer die Daten sind, desto bessere Vorhersagemodelle können wir daraus ableiten“ erklärt der Geobiologe. Korallen sind dabei für ihn, was die Meerestemperaturen betrifft, die besten Datenlieferanten.
„Noch vor vierzig Jahren haben ausschließlich kommerzielle Schiffe mit Temperaturmessgeräten Aufzeichnungen vorgenommen – das aber auch erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts und nur entlang der wichtigsten Handelsrouten“, berichtet Leinfelder. Unterschiedliche Messmethoden erschwerten zudem die Interpretation dieser Daten. „Seit den Achtzigerjahren haben zwar Satelliten die Messungen mehr und mehr übernommen“, sagt Leinfelder, „aber gerade in Küstennähe sind diese wegen des Landeinflusses oft mit Fehlern behaftet.“
Sauerstoff-Isotope ermöglichen exakte Rückschlüsse
Die Korallen hingegen haben die Informationen über frühere Meerestemperaturen in ihren Kalkskeletten aufs Genaueste gespeichert. „Je nach Temperatur lagern die Tiere in ihren Gerüsten unterschiedliche Mengen der verschiedenen Sauerstoff-Isotope ein“, erklärt Leinfelder. „Diese können wir im Labor bestimmen und so sehr exakte Rückschlüsse auf die Wassertemperaturen ziehen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt geherrscht haben müssen.“
Als Isotope bezeichnen Wissenschaftler unterschiedlich schwere Varianten des gleichen chemischen Elements, in diesem Fall des Sauerstoffs.
„Anhand solcher Experimente haben wir zum Beispiel nachweisen können, dass sich die Meere schon kurz nach der Industrialisierung stärker als bis dato vermutet erwärmt haben – sie den vermehrten Ausstoß an Kohlendioxid also schlechter als erhofft abpuffern konnten“, berichtet Leinfelder. Zudem konnten die Forscher anhand ihrer Messungen zeigen, dass die Temperaturspitzen in jüngster Zeit kräftig zugenommen haben.
Gefährliche Wassererwärmung
Eine Erwärmung des Wassers von nur wenigen Grad ist für die Korallen vor allem deshalb so gefährlich, weil ihre Symbionten, die Algen, dann anfangen, Giftstoffe zu produzieren. Um sich selbst zu schützen, setzen die Korallen ihre Untermieter quasi vor die Tür.
Sichtbarstes Zeichen ist die Korallenbleiche, die in größerem Ausmaß erstmals seit dem Jahr 1998 zu beobachten war. „Ist die Erwärmung nur vorübergehend und tritt lediglich in größeren Zeitabständen auf, haben die Korallen meist ausreichend Gelegenheit, sich wieder zu erholen“, sagt Leinfelder. Dauert der Nahrungsentzug wegen der fehlenden Energielieferanten allerdings zu lange, sterben die Tiere. Zurück bleibt ein totes Gerüst, das nach und nach zerfällt.
Eine Bedrohung für die Umwelt
Nicht nur die steigenden Temperaturen bedrohen die tropischen Flachwasserriffe. Auch die industrielle Fischerei mit ihren Schleppnetzen und anderen ökologisch fragwürdigen Fangmethoden sowie die moderne Landwirtschaft setzen den Korallen und ihren unzähligen Nachbarn und Mitbewohnern zu.
„Indem wir die Stickstoff- oder Phosphor-Isotope in unseren Bohrkernen messen, können wir beispielsweise erkennen, ob und wann in der Vergangenheit eine Überdüngung der küstennahen Felder und Plantagen stattgefunden hat“, sagt Leinfelder.
Mit starken Regenfällen gelangt der Dünger nämlich auch in die Meere. Korallen aber sind auf nährstoffarmes Wasser angewiesen, da sich ansonsten bestimmte Algenarten vermehren, die sich wie ein schleimiger Film auf ihre Kalkgerüste legen. „Dieser Film raubt den nützlichen einzelligen Algen das Sonnenlicht“, erklärt Leinfelder. „Somit können sie keine Fotosynthese mehr betreiben und die Korallen nicht mit der lebensnotwendigen Energie versorgen.“
Umdenken ist notwendig
Längst ist den Forschern klar geworden, dass es vielfältige Anstrengungen brauchen wird, um die tropischen Flachwasserriffe der Nachwelt zu erhalten. „Den Klimawandel aufzuhalten, wird alleine nicht reichen“, sagt Leinfelder. „Es muss ein generelles Umdenken erfolgen, gerade auch in der Fischerei und in der Landwirtschaft.“
Und geschützt werden sollten die Riffe nicht nur wegen ihres einmaligen Artenreichtums und ihrer mitunter geradezu überwältigenden Schönheit. „Für den Küstenschutz etwa ist ein intakter Riffsaum unerlässlich“, sagt Leinfelder. Denn die den Inseln und dem Festland vorgelagerten Riffe fangen bis zu 95 Prozent der in den Wellen gespeicherten Energie ab – kaum auszudenken, was geschähe, wenn das Wasser mit ungebremster Macht auf den Strand oder strandnahe Bebauungen krachen würde. „Mehr als 200 Millionen Menschen weltweit sind auf die Riffe als Küstenschutz angewiesen“, sagt Leinfelder.
Kostbare Korallenriffe
Doch auch hierzulande profitiert praktisch jeder Mensch, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, von den Korallenriffen. „Da die Riffe unzähligen Fischarten eine sichere Kinderstube und reich gefüllte Speisekammer bieten, würde bei ihrem Verlust rund ein Viertel des globalen Fischfangs verloren gehen“, sagt Leinfelder.
Darüber hinaus sind die Riffe für die Arzneimittelforschung höchst interessant. Viele Riffbewohner haben im Laufe der Evolution ausgeklügelte Überlebensstrategien entwickelt, mit denen sie sich vor Fressfeinden schützen. Die Substanzen, die sie produzieren, könnten – im Labor nachgebaut – künftig unter anderem in der Schmerz-, Krebs- und Aids-Therapie zum Einsatz kommen.
Im Dritten Internationalen Jahr des Riffs wollen Reinhold Leinfelder und sein Team daher auch in der Langen Nacht der Wissenschaften zeigen, wie kostbar Korallenriffe sind. Besucher erfahren außerdem, wie man Korallenkerne bohrt und welche Geheimnisse man ihnen mit den verschiedensten Methoden entlocken kann. Zudem können zahlreiche Riffbewohner in Natura sowie unter Licht- und Elektronenmikroskopen bestaunt werden.
Korallen als Klimaarchive. Mitmachexperiment. Geologische Wissenschaften/FU. Haus C, 17 bis 23 Uhr.