Lassen Sie uns über Berlin reden, Lars Eidinger: "Gegend ist neureich und prollig geworden"

Die Tür zum Café Podewil in der Klosterstraße geht auf, Lars Eidinger tritt ein. Er trägt einen langen, dunkelblauen Mantel und eine Mütze, die er während des Interviews auflassen wird, und grüßt freundlich. Bevor er sich setzt, bestellt er an der Bar einen Café Latte und ein Mineralwasser. Als beides serviert wird, freut er sich über den Keks dazu.

Herr Eidinger, Sie kommen gerade von einer Probe...

Genau, von „Romeo und Julia“, wir haben hier drüben eine Probebühne angemietet, deshalb habe ich mich hier verabredet.

Sie inszenieren gerade, das ist Ihre zweite Inszenierung an der Schaubühne, richtig?

2008 habe ich „Die Räuber“ mit Schauspielstudenten gemacht, und vor zwei Jahren habe ich Thomas (Ostermeier, Anm. d. Red.) gefragt, ob ich nicht „Romeo und Julia“ inszenieren dürfe. Er wollte das eigentlich selbst machen, aber nach einem Jahr meinte er, ach, so richtig fällt mir gar nichts ein, mach das ruhig. Und ich hatte schon immer die Ambition, Regie zu führen, mir hat es schon immer Spaß gemacht, mich einzumischen.

Was haben Sie heute geprobt?

Zum ersten Mal die Balkonszene. Ich bin wirklich sehr beglückt, wie die Proben laufen, denn es ist nicht einfach, von einem Kollegen inszeniert zu werden. Es kommt ja doch zu Situationen, wo der Regisseur sagt: Finde ich blöd, wie du das spielst. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass die Schauspieler damit ein Problem haben. Im Gegenteil, alle wirken sehr frei. Es ist ein bisschen so wie früher, wenn man mit Freunden gespielt hat und die Eltern nicht zu Hause waren.

Sie sind der Star der Schaubühne, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Bühnen. Als Sie 1999 engagiert wurden, begann auch Thomas Ostermeier gerade erst und die jungen Leute gingen nicht in die Schaubühne, sondern in die Volksbühne.

Ja, wir haben die Volksbühne lange darum beneidet, dass sie besser gelegen ist. Wer setzt sich denn in die S-Bahn oder in den Bus und fährt an das letzte Ende vom Kudamm? Viele wussten von der Existenz der Schaubühne gar nichts. Wir hatten Stücke, mit denen wir total glücklich waren, und doch blieb das Gefühl: Das Publikum findet uns nicht. Mittlerweile ist das nicht mehr so. Wenn ich jetzt von der Bühne in den Zuschauerraum gucke, freue ich mich, wer da drin sitzt. Das sind auf keinen Fall Leute, die in Charlottenburg wohnen, sondern in Kreuzberg, Neukölln, Mitte und Prenzlauer Berg. Ich finde es toll, dass die Leute diesen weiten Weg in Kauf nehmen.

Wohnen Sie nicht selbst in Charlottenburg?

In der Schlüterstraße. Aber ich mag die Ecke nicht mehr so gerne. Die ist so neureich und geschmacklos und russisch und prollig geworden, ich fühle mich da nicht mehr wohl.

Warum wohnen Sie denn da?

Ich bin durch Zufall an den Kudamm gezogen, noch bevor ich an der Schaubühne engagiert war. Ich hatte eine Zweizimmerwohnung von einem Freund übernommen. Dann gefiel mir Charlottenburg so sehr, dass ich dort noch einmal umgezogen bin. Aber vor fünfzehn Jahren war das auch anders. Da war das ein altlinker Kiez mit vielen Intellektuellen, doch durch Restaurants wie „Adnan“ oder diesen Koks-Italiener oder die „Yva“-Suite von dem Sohn von Iris Berben ist ein anderes Publikum gekommen. Ich habe nichts gegen die Leute, aber ich muss da nicht wohnen. Meine Frau, unsere Tochter und ich ziehen jetzt an den Stuttgarter Platz. Da atmet noch der Geist der 68er und Kommune 1.

Als alles nach Mitte strebte, hat es Sie da nicht gereizt, dorthin zu ziehen?

Ich bin Anfang der Neunziger viel in Mitte ausgegangen. Das war meine beste Zeit in Berlin. Aber wohnen wollte ich da nicht. Ich bin West-Berliner, da bin ich sentimental. Alle meine Kindheitserinnerungen sind unmittelbar mit dem Westen verbunden. Der Kudamm, Strandbad Wannsee, der Teufelsberg. Ich kann auch immer noch mit dem Funkturm mehr anfangen als mit dem Fernsehturm.

Wo sind Sie aufgewachsen?

Ich sage immer Tempelhof, aber genau genommen ist das Marienfelde. Das war der Bezirk von Wowereit als Bezirksstadtrat. Damals war der immer der Buhmann wegen dieser ganzen Schuldebatte. Ich war auf einer asbestverseuchten Gesamtschule, Gustav-Heinemann-Schule hieß die. Die war eine der futuristisch aussehenden Schulen aus den achtziger Jahren, die alle wegen Asbest abgerissen werden mussten. Dann war die große Diskussion, wo man die Kinder unterbringt. Ich kam in ein Schuldorf, das steht immer noch, es ist nie ein neues Gebäude gebaut worden.

Was ist denn ein Schuldorf?

Das ist ein Provisorium aus Containern auf einer Wiese genau am Stadtrand. Ich habe in meinem Klassenzimmer im zweiten Stock gesessen und von dort über die Mauer geguckt.

Und was haben Sie gesehen?

Kurioserweise waren da Maste mit Kabeln dazwischen und daran hingen Leinen mit Schäferhunden dran.

Meinen Sie die Hundelaufanlagen?

Ja, genau. Das war seltsam, dass man da so rüber gucken konnte. Einerseits war das mitten in der Stadt, andererseits hat man gesehen, dass da endlos Natur hinter der Mauer ist. Wälder bis an den Horizont.

Wie alt waren Sie, als die Mauer fiel?

Dreizehn. Wir sind rüber gelaufen und hinter dem ersten größeren Waldstück war eine Raketenabschussrampe aus Beton. Die war von uns aus nicht zu sehen. Das fand ich ziemlich erschreckend.

Haben Sie mit den Lehrern über die Mauer gesprochen?

Darüber wurde komischer Weise kaum gesprochen, das ist es ja eben. Die war ganz selbstverständlich da. Schlimmerweise kann ich mich nicht mal an den Tag erinnern, an dem die Mauer fiel. Ich glaube, ich war auf einer Fußballfahrt in Pottenstein oder so.

Gab es keinen bedeutenden Moment?

Das einzige, was ich erinnere ist, dass ich mit meinem Bruder mit einem Vorschlaghammer hin bin und wir wie die Blöden Mauerteile abgehauen haben. Die haben wir auch noch, in einem Setzkasten bei meinen Eltern auf dem Dachboden. Mit meinen Eltern sind wir dann oft ins Umland gefahren. Das fand ich als Kind furchtbar. Ich habe mich zu Tode geschämt, in einem 5er BMW im Schritttempo durch diese Käffer zu fahren. Die Leute standen in den Vorgärten und haben geguckt. Mein Bruder und ich sind hinten immer tiefer in den Sitz gerutscht.

Was machen Ihre Eltern?

Die sind beide schon in Rente, aber mein Vater war Verkaufsingenieur, meine Mutter Kinderkrankenschwester.

Haben Sie die Schule in Marienfelde beendet?

Ich habe Abitur auf der Gustav-Heinemann-Schule gemacht. Heute denke ich, dass ein Gymnasium auch nicht schlecht für mich gewesen wäre. Ich habe in der Schule einfach kaum etwas gelernt. Was ich gelernt habe, mit den Lernschwachen und Problemkindern, ist soziale Kompetenz. Ich hatte einen wahnsinnig engagierten Darstellendes-Spiel-Lehrer. Das war ein Fach, keine AG. Da habe ich mein Interesse für Theater entwickelt.

Sie waren Kinderdarsteller in der SFB-Sendung „Moskito – nichts sticht besser“. Was genau war das?

Das war Jugendfernsehen mit aufklärerischem Anspruch und Tabuthemen wie: Mein Vater ist Alkoholiker. Ich bin schwul. Das erste Mal. Wir waren sechs Kinder, die das in Sketchen gespielt haben. Als Kind fand ich das alles ganz schön mutig.

Jetzt haben Sie selbst ein Kind, Ihre Tochter ist sechs. In der Tatort-Folge „Borowski und der stille Gast“ spielen Sie einen psychisch kranken Postboten, der das Kind einer heroinabhängigen Prostituierten entführt. Würden Sie wollen, dass Ihre Tochter eine solche Rolle spielt?

Ich finde so was total grenzwertig und bin verblüfft oder erschrocken, wie unverantwortlich und fahrlässig Eltern ihre Kinder ans Filmset schicken. Ich höre in den Vorgesprächen immer wieder raus, dass die Eltern teilweise nicht mal die Drehbücher kennen geschweige denn wissen, was ihre Kinder spielen müssen. Nein, ich würde nicht wollen, dass meine Tochter bei so was mitmacht. Wenn sie spielen will, soll sie auf den Spielplatz gehen.

Sie sind auf der Bühne hemmungslos. Sie haben dort schon stundenlang im Matsch gewühlt, gestrippt, gepinkelt und sich Würstchen in den Hintern geschoben. Wie findet Ihre Frau das?

Ich denke, dass es verstörend sein kann, seinen Partner in so extremen Situationen und Stimmungen auf der Bühne zu erleben. Es gab auch schon mal den Fall, nach Lars Noréns “Dämonen“, dass sie mich danach erstmal nicht mehr leiden konnte.

Noch eine Frage zum Applaus, denn Sie werden zu Gastspielen in die ganze Welt eingeladen. In Deutschland ist Applaus lang und ausgiebig, in anderen Ländern klatschen die Leute einmal und dann ist Schluss. Wie finden Sie das?

Ich finde kurzen und impulsiven Applaus auch okay. Besser als wenn es so vor sich hin plätschert. Doch wenn an manchen Abende hier die Leute richtig ausflippen, das findet man schon auch toll. In England hatten wir allerdings eine Vorstellung von „Nora“ mit einer kompletten Applaus-Choreographie danach und wir hatten eine Drehbühne. Peinlicherweise drehte sich die Bühne in den Vorhang hinein und der Applaus war schon vorbei. In anderen Ländern kommt es oft zu unerwarteten Situationen.

Was für Situationen meinen Sie denn noch?

Wir waren zum Beispiel mit „Hamlet“ in Ramallah, da ist der Konflikt natürlich viel greifbarer. Jedes Wort, das in Deutschland abstrakt ist, Tod, Rache, Brudermord, ist dort konkret. In einem Moment habe ich so eine Maschinenpistole, eine M16. Die haben da alle Zuhause. Ich nehme die und will Polonius erschießen, und die Waffe klemmt. Da habe ich mich zum Publikum umgedreht und auf englisch gefragt: „Kennt sich jemand mit der Waffe aus?“ So ein Impuls. Natürlich kannte sich jeder im Publikum mit der Waffe aus. Und der dumme Deutsche steht da und kriegt das Ding nicht entsichert und jeder von denen könnte auf die Bühne kommen und sagen: „Ich erschieße den für dich“.

Das Interview führte Annett Heide.