Leben nach dem Mauerfall: "Frauen haben einen Plan B"

Berlin - Das Bild ist das erste, was man sieht, wenn man in Doris Derflings Büro kommt: eine Holzbank unter mächtigen Bäumen, der größte Teil des Fotos ist von vollem Laub ausgefüllt und von den dicken Stämmen. Die Bank steht einladend davor, man kann sich vorstellen, dass es gut tun würde, auf ihr zu sitzen. Nur das Rascheln der Blätter würde man hören, ein paar Vögel vielleicht. Man würde einatmen. Ausatmen. Ruhig werden.

Doris Derfling hofft, dass ein bisschen von diesem Gefühl bei den Menschen ankommt, die ihr Zimmer bei der Schuldnerberatung Marzahn-Hellersdorf betreten. Darum hat sie das große Foto genau gegenüber dem Schreibtisch aufgehängt, an dem ihre Klienten Platz nehmen. Sie sagt, dass die genau das schon lange nicht mehr können: durchatmen, die Dinge mit Abstand betrachten. „Wenn man Schulden hat, stürmt alles auf einen ein, man kann wichtig und unwichtig nicht mehr unterscheiden. Man ist wie gelähmt.“

Doris Derfling, Leiterin der Schuldnerberatung Marzahn-Hellersdorf, kennt diese Gefühle. Sie hat sie durchgemacht.

Sie erzählt ihren Klienten nicht, dass es ihr vor ziemlich genau 20 Jahren ging wie ihnen: als ihr und ihrem Mann von der Begeisterung über den Mauerfall nicht viel geblieben war als Ernüchterung, ein zu Bruch gegangener Traum vom Neuanfang als Unternehmer und ein Berg Schulden. Die Klienten werden es auch nicht vermuten, denn Doris Derfling vermittelt rundweg den Eindruck einer Frau, die mit der Welt im Einklang ist und Ungemach in Schach zu halten weiß: direkter Blick aus dezent geschminkten Augen, sorgfältig aufeinander abgestimmte Kleidung, eine klare Stimme, mit der sie entschiedene Sätze formuliert. Auch das Büro im Erdgeschoss eines Wohnblocks in Hellersdorf verrät Ordnungsliebe, alles ist an seinem Ort, von den akkurat beschrifteten Aktenordnern bis zur geraden Reihe von Orchideentöpfen. Die Menschen, die zu Doris Derfling kommen, führen es vielleicht einfach auf deren Erfahrung zurück, dass sie so genau zu wissen scheint, was sie erleben.

Ein perfektes Team

Doris Derfling hat sich zur Schuldnerberaterin ausbilden lassen, um die Hilfe zu geben, die sie und ihr Mann nicht bekommen haben, als sie nicht mehr wussten, wie es weitergehen soll. Mitte der Neunzigerjahre war das, die Probleme hatten aber schon viel früher begonnen. „Wir hatten sechs Monate lang das Gefühl, dass das alles eine gute Idee war, danach haben wir nur noch ums Überleben gekämpft“, sagt sie. Die Idee: ein Fuhrunternehmen. Lastwagen, die Ware quer durch Deutschland transportieren würden.

Sie schienen das perfekte Team dafür, Herr Derfling hatte in der DDR viele Jahre in einem Fuhrbetrieb gearbeitet, Frau Derfling war Betriebswirtin und kannte sich mit Buchhaltung aus. Sie fühlten sich erfahren, aber noch jung genug, um auszuprobieren, was das Leben nach dem Ende der DDR an Möglichkeiten bereithielt. Im Herbst 1990 nahmen sie einen Kredit über 180 000 Mark auf, ihr Grundstück bei Berlin diente als Sicherheit. Sie kauften drei Lastwagen, stellten Fahrer ein. Frau Derfling hatte genau aufgeschlüsselt, wie viele Aufträge sie brauchten, damit sie von der neuen Firma würden leben können. Es schien machbar. „Es war alles wunderbar berechnet“, sagt Doris Derfling und macht dann eine der bedeutungsvollen Pausen, mit denen sie gern eine Pointe ankündigt. „Auf dem Papier.“

Der Plan auf dem Papier und die Wirklichkeit begannen auseinanderzudriften, als das Tarifsystem in der Transportbranche neu geregelt wurde. Danach wurde der Wettbewerb härter, die Preise sanken. Dann blieben Kunden das Geld schuldig. Den ersten verklagten sie noch. „Wir haben auch gewonnen“, sagt Frau Derfling. Pause. „An Erfahrung.“

Den Prozess gewannen sie, das Geld, 80.000 Mark, sahen sie trotzdem nicht wieder. Die andere Firma hatte Konkurs angemeldet. Von nun an klappte eigentlich nichts mehr wie vorgesehen: Die Derflings arbeiteten beide 60 Stunden pro Woche und verdienten dennoch weniger als ihre Fahrer. Ihre Mütter gaben, was sie entbehren konnten, die zwei Söhne arbeiteten mit, Herr Derfling kündigte seine private Altersvorsorge, die Schulden wuchsen trotzdem – und mit ihnen die Angst: vor der nächsten Rechnung im Briefkasten, dem nächsten Kunden, der nicht zahlen würde, der nächsten Nacht, in der sie wieder kein Auge zu tun würden.

„Wir waren zu gutgläubig. Wir haben die Märchen geglaubt, die man uns erzählte, und wir haben auch geglaubt, dass ein Handschlag etwas gilt“, sagt Doris Derfling und in dem Satz steckt weniger Verbitterung über die unerwarteten Härten, die das neue System bereithielt, als Verwunderung über das Leben, das einen in einem Land groß werden lassen und dann in ein völlig anderes werfen kann – eines, in dem man sich, als Mensch von 40 Jahren, plötzlich unzureichend fühlt.