„Letzte Generation“: „Ich blockiere Autobahnen fürs Klima, dafür gehe ich auch in die Zelle“
Was will die Gruppe „Letzte Generation“? Warum blockiert sie Straßen? Der Meinungsbeitrag einer Klimaaktivistin mit allen Antworten.

Es gibt Momente, da ist die Klimakrise plötzlich nicht mehr nur diese abstrakte Information, da wird sie real. In NRW und Rheinland-Pfalz war das im vergangenen Jahr plötzlich der Fall, als über 130 Menschen an der Flutkatastrophe starben. In Brandenburg war es vergangene Woche so, als der Wald brannte und Orte evakuiert werden mussten. Die Katastrophen werden spürbar, sie werden häufiger und die Gefahr ist, dass sie irgendwann häufiger sein werden, als wir es schaffen, Orte wiederaufzubauen.
Während Kriege beginnen, Lieferketten zusammenzubrechen drohen und Naturkatastrophen sich häufen, geht es in Deutschland verhältnismäßig normal weiter. Doch die Vereinten Nationen warnten vor dem „völligen Zusammenbruch“ der menschlichen Gesellschaft und der letzte Weltklima-Bericht sprach von einem sich „rasant schließenden Zeitfenster“, um eine lebenswerte Zukunft zu bewahren.
Beim Duschen auf die Uhr schauen
Die meisten Menschen wurschteln sich irgendwie so durch. Nicht jede Entscheidung, die Menschen treffen, ist eine gut abgewogene, von allen Seiten beleuchtete Entscheidung. Das ist im Alltag auch okay so. Doch es gibt Momente im Leben, da sollten wir gut darüber nachdenken, was wir als Nächstes tun. Wenn die Vereinten Nationen – ein Zusammenschluss von 193 Staaten, DIE globale Organisation zur Sicherung des Weltfriedens – vor dem „völligem Zusammenbruch“ warnt, dann ist das so ein Moment. Wir alle müssen uns jetzt fragen, was passiert hier eigentlich? Und was tun wir?
Robert Habeck hat kürzlich eine Diskussion angestoßen, indem er sagte, er hätte seine Duschzeit reduziert, um Energie zu sparen. Jetzt wissen wir: Habeck, der immer schon weniger als fünf Minuten duschte, macht das jetzt noch schneller. Kubicki dagegen möchte beim Duschen nicht auf die Uhr schauen.
Es gibt viele Möglichkeiten, um Energie zu sparen
Habeck spricht im Rahmen seines Minister-Jobs immer mal wieder Energiespar-Ideen fürs Private an. Er sagt dabei in der Regel etwas dazu wie: „Ich weiß, das klingt jetzt blöd, wenn ich als Minister sage, wir alle können etwas tun.“ Ich möchte ihm sagen: Herr Habeck, es klingt wirklich blöd! Nehmen Sie Ihren Gedanken ernst! Sie sind der Minister für Wirtschaft- und Klimaschutz – gewählt, um die wirklich großen Hebel in Bewegung zu setzen, nicht um Dusch-Tipps zu geben.
Die Internationale Energie-Agentur sagte 2021, wenn Regierungen die Klimakrise ernst nähmen, dürfte es keine weiteren Investitionen in fossile Brennstoffe geben. Um die Abhängigkeit von Russland zu verringern, sollten wir also vor allem sparen statt bohren.

Es gibt so viele Möglichkeiten, wie wir als Gesellschaft gemeinsam viel einsparen könnten. Insbesondere seit der Ukraine-Krieg begann, wartet die Bevölkerung förmlich darauf. Die Mehrheit der Bevölkerung ist laut einer Umfrage z. B. für ein Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen. Die Deutsche Umwelthilfe fordert sogar 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen. Das würde 3,7 Mrd. Liter Benzin und Diesel pro Jahr einsparen. Das 9-Euro-Ticket hat gezeigt, dass die Menschen den öffentlichen Nahverkehr mehr nutzen, wenn er günstig ist. Ein Viertel mehr war laut ersten Analysen der Bahn unterwegs. Weshalb wird der ÖPNV also nicht dauerhaft günstig oder sogar gratis gemacht?
Absprachen werden wieder aufgeweicht
Die wirklichen Sparmaßnahmen müssen politisch beschlossen werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Es hätte viele Leben gekostet, hätten wir zu Beginn der Corona-Pandemie darauf gewartet, bis alle Menschen sich eigenständig entschließen, 1,5 Meter Abstand zu halten. Genauso kostet es jetzt Menschenleben, dass keine allgemeinen Energiesparmaßnahmen beschlossen werden.
Wenn die Minister jetzt nicht alles tun, was notwendig ist, um Unabhängigkeit von Russland zu erreichen UND den Klimanotfall zu bewältigen, müsste ein respektvoller Klimakanzler da nicht ein Machtwort sprechen? „Respekt“ und „Klimakanzler“, das waren Schlagworte auf den Wahlplakaten von Olaf Scholz. So, dachte er sich wohl, sollte ein Bundeskanzler 2021 sein – ein respektvoller Klimakanzler. Das scheint jedoch nicht ganz sein Kurs zu sein. Beim G7-Gipfel jedenfalls regte er an, bisherige Absprachen bezüglich fossiler Brennstoffe wieder aufzuweichen.
Die Bundesregierung wird uns über die Klippe führen
Ich weiß nicht, wie oft ich schon Straßen blockiert habe, nur dass es mir jedes Mal wieder schwerfällt. Ich greife nicht leichten Herzens in den Alltag der Menschen ein. Die Sache ist, dass die Erde heißer und unsere Lebensgrundlage zerstört wird. Das ist seit Jahrzehnten bekannt und seit Jahrzehnten wird es immer schlimmer gemacht. Mittlerweile werden Warnungen laut, dass diese Katastrophe sich bald menschlicher Kontrolle entziehen könnte. Es heißt, wir hätten noch zwei bis drei Jahre, um das Schicksal der Menschheit zu bestimmen. Wir alle sind die letzte Generation, die noch maßgeblich etwas ändern kann. Bis die heutigen Kinder groß sind, wird die Welt eine andere, eine lebensfeindliche sein.
Ich blockiere nicht, um die Menschen in Berlin zu stören. Ich blockiere, um den mir größtmöglichen politischen Hebel zu betätigen. Weil wir vor einer nie da gewesenen Katastrophe stehen.
Manche sagen, die Forderung der „Letzten Generation“ sei eigentlich viel zu klein. Nordseeöl – wer hat überhaupt davon gehört, dass die Bundesregierung dieses Thema wieder aufgemacht hat? Doch was sagt es uns, dass die Bundesregierung trotz Autobahnblockaden nicht bereit ist, sich gegen neues Nordseeöl auszusprechen? Obwohl es nur ein winzig kleiner Schritt wäre. Es zeigt uns, dass sie nicht bereit ist, in die richtige Richtung zu gehen. Die Bundesregierung wird uns über die Klippe führen. Die Frage ist: Gehen alle widerstandslos mit oder lehnen sie sich auf?
Die Regierung verschärft die Gefahr von Tag zu Tag
Es ist viel zu normal, dass Regierungen nicht halten, was sie versprechen. Die Bundesregierung verfehlt schon so lange ihre eigenen Klimaziele, dass sie sich mittlerweile bereits direkt nicht erreichbare Ziele aufstellt. Der aktuelle Plan ist „Klimaneutralität 2045“, um den „1,5-Grad-Pfad“ einzuhalten. Doch wir erreichen 1,5 Grad voraussichtlich schon 2030, womöglich bereits 2026.
Wir sind so tief in der Gefahrenzone, Prof. Schellnhuber beschrieb es so: „Ich sage Ihnen, dass wir unsere Kinder in einen globalen Schulbus hineinschieben, der mit 98 Prozent Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt.“ So groß wird die Gefahr von einem der renommiertesten Klimawissenschaftler Deutschlands eingeschätzt. In einer idealen Welt täte die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende, um diese Gefahr abzuwenden. In der realen Welt verschärft sie diese Gefahr Tag für Tag, als wäre es ihre Aufgabe.
Was ist meine Verantwortung als Bürgerin in dieser Katastrophe? Ich möchte tun, was ich auch von Herrn Habeck und Herrn Scholz verlangt habe. Ich möchte meine eigenen Gedanken ernst nehmen.
Es geht hier um Menschenleben
Wenn ich ernsthaft darüber nachdenke, was jetzt zu tun ist, dann kann ich nicht mehr guten Gewissens zu einer Klima-Demo gehen. So viel Greta Thunbergs widerständiger Schulstreik auslöste, so wenig erreichten die riesigen Demonstrationen. Ich bin überzeugt, wir brauchen jetzt wieder Widerständigkeit. Den einfachen und kompromisslosen Unwillen, sich mit irgendetwas anderem zufriedenzugeben als dem Notwendigen. Es geht hier schließlich um unser Leben und um das unserer Mitmenschen.
In letzter Instanz fühle ich mich denen verpflichtet – meinen Mitmenschen. Ich möchte anderen möglichst kein Leid zufügen. Hierfür kann ich nicht einfach nur schauen, wie ich die Menschen direkt um mich herum beeinflusse, z. B. die in Berlin auf der Straße im Stau. Denn mein Handeln beeinflusst in Wahrheit Menschen in vielen Teilen der Welt und sogar Menschen in der Zukunft. Und unser aller Nichthandeln tötet.
Ich habe keine Angst vor einer Zeit in der Zelle
Die Vorstellung, Bilder zu sehen, von Leichenbergen von Menschen, die an Hitze oder Durst starben oder im Krieg oder an einer Grenze – wie kürzlich in Melilla –, ist für mich abschreckender als jede Strafe, die der deutsche Staat in petto hat. Die Vorstellung, dass meine späteren Kinder und Enkelkinder leiden könnten, ist für mich abschreckender als Zeit in einer Zelle.
Ich werde weiter Autobahnen blockieren. Ich kann nicht mehr guten Gewissens glauben, dass die Bundesregierung uns schützen wird. Ich kann nicht mehr guten Gewissens auf die gewohnte Weise protestieren, weil es jahrzehntelang nicht funktioniert hat.
Es ist Zeit, dass wir uns jetzt alle fragen: Was passiert hier gerade und was wollen wir eigentlich? Und dass wir den Mut aufbringen, das nie wieder aus den Augen zu lassen.
Denn was wird uns 2050 mehr interessieren – ob es noch genug Essen und Trinken gibt oder ob 2022 anstrengend war?
Jana Mestmäcker ist Psychologie-Dozentin aus Göttingen und blockiert mit der „Letzten Generation“ Straßen.
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