„Man hätte nie“: Warum der Mensch die Dinge immer vom Ende her bewertet

Viele Leute reden über den Gang der Weltgeschichte, als hätten sie alles vorhergesehen. Dabei wissen sie nicht mal, was in ihrem eigenen Leben passiert.

Bei manchen sind die Verwirrungen des Lebens recht groß.
Bei manchen sind die Verwirrungen des Lebens recht groß.imago/Gary Waters/Ikon Images

Berlin-Der Mensch bewertet die Dinge meist vom Ende her. „Allet war falsch. Sie war nur schlecht zu mir jewesen. Ach, hätten wa nur nie jeheiratet!“, jammert der frisch geschiedene Ex-Ehemann. Dabei hatte man sich am Anfang heiß geliebt, kam gar nicht aus der Kiste raus. Man reiste durch die Welt, baute ein Häuschen, zeugte Kinder. Nach zwanzig Jahren wandelte sich plötzlich die Beziehung, weil man sich verändert hatte. Und heute ist plötzlich alles schlecht und falsch.

Erst vom Ende her wird alles zu einem Gesamtbild. Das ist im Kleinen wie im Großen. Man sieht es zum Beispiel daran, dass bestimmte Leute jetzt sagen, man hätte „nie mit Russland Geschäfte machen“ sollen. Oder: „Der Westen hätte nie ...“ Man erkennt schon: Zwei Worte tauchen dabei auf: „hätte“ und „nie“. Man fragt nicht: Wie sah es konkret aus? Welche Situationen gab es zu verschiedenen Zeiten? Welche Interessen, Chancen, Zwänge, Vorurteile, Überheblichkeiten? Warum hat man sich so entschieden und nicht anders? Und was erweist sich im Rückblick als Illusion oder Fehler?

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Nein, das fragt man sich nicht. Stattdessen fällt man immer wieder rein. Die Psychologie hat einen schönen Begriff dafür: Rückschaufehler. Man glaubt, etwas sei zwangsläufig und vorhersehbar gewesen, und man deutet auch eigene frühere Aussagen dahingehend um. „Hinterher hat man vorher schon immer allet jewusst“, sagt mein innerer Berliner.

Das tun nicht nur Politiker. Nein, die sonntäglichen Kaffeetafeln sind voll von Welterklärern, die verkünden: „Ick hab schon imma jewarnt: Dit läuft aus’m Ruder! Dit hat doch’n Blinda mit’m Krückstock jesehn! Die hätten mir mal ranlassen sollen.“

Guckt man sich dann aber das Leben dieser Welterklärer an, dann sieht man: lauter unvorhersehbare Wendungen. Denn schon im eigenen Leben weiß niemand wirklich, was als Nächstes um die Ecke kommt. Trotzdem muss natürlich im Rückblick alles zur großen Geschichte verwoben werden. Da heißt es dann in der Trauerrede: „Die Familie von Onkel Otto war immer schon erdverbunden und bodenständig. Also war es nur folgerichtig, dass Otto in der Landwirtschaft seine Erfüllung fand.“

„Olle Otto? Ja, der wollte eijentlich Künstla werden“, erzählt dagegen sein engster Freund hinterher. „Mit Landwürtschaft hatte der nischt am Hut, obwohl seine Familie aus irjend’nem Kuhkaff in Schlesien kam. Leider hat ihn die Kunsthochschule nich jenommen. Is er also Inschenör jeworden ...

Eeenmal war er uff Majorka. Da hat er olle Hiltrud kennenjelernt. Der Vadda von die hatte ’n Bauernhof irjendwo im Westen. Ist vom Trekka jefalln und hat ’n Been verloren. Hillu konnte nich weg. Olle Otto is also hinjezooren, hat umjesattelt. Uff Landwirtschaft. Drillinge ham se jekricht, obwohl se jar keene Kinder ham wollten. Mann, hat olle Otto jeflucht! Jedes Mal, wenn wa uns die Birne zujeschüttet ham. Aber wat willste machen? So ist dit Leben nu mal.“

Ja, so ist es. Und so findet leider auch oft die Weltgeschichte statt. Wie bei olle Otto.