Maskenmann-Prozess: Spuren im Sumpf
Frankfurt (Oder) - Die Spannung ist greifbar an diesem Freitagmorgen im vollen Saal 007 des Landgerichts. Ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen, als die Richter der Zweiten Strafkammer durch eine Tür an der Stirnseite in den Saal kommen. Sie laufen mit ernsten Gesichtern in einer Reihe hintereinander, bis jeder vor seinem Stuhl steht. Das Geräusch hochschwippender Klappstühle verstummt. Jeder im Saal hat sich von seinem Platz erhoben. Auch Mario K., der 47 Jahre alte Mann, dessen Schicksal in wenigen Sekunden besiegelt sein wird.
Dem hochgewachsenen Mann mit den breiten Schultern und den kurzen schwarzen Haaren sind gerade die Handschellen abgenommen worden. Jetzt steht er neben seinen drei Verteidigern, die Anspannung ist ihm anzusehen. Stocksteif steht er da, fährt sich durch den ordentlich gestutzten Vollbart, der in dem ein Jahr dauernden Prozess grau geworden ist. Dann faltet er die Hände und schaut mit zusammengepressten Lippen den Vorsitzenden Richter an. Matthias Fuchs steht in der Mitte der fünf Richter, der einzige Mann dieser Schwurgerichtskammer. Er zieht das Urteil aus einer gelben Mappe.
Es beginnt mit sieben Wörtern, die jeder im Saal kennt, weil er sie schon oft gehört oder gelesen hat. „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“, sagt Fuchs und macht eine kurze Pause. Unglaublich still ist es jetzt. Dann kommt sie, die Entscheidung. „Der Angeklagte wird wegen versuchten Mordes, erpresserischen Menschenraubs und gefährlicher Körperverletzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.“ Zudem muss Mario K. ein Schmerzensgeld von 250.000 Euro an einen Bodyguard zahlen, den er nach Überzeugung des Gerichts niedergeschossen hat.
Pannen der Ermittler
Mario K. ist der Maskenmann, davon ist das Gericht überzeugt. Er ist jener maskierte Täter, der in den Jahren 2011 zweimal die Familie des Berliner Immobilienunternehmers Christian P. in Bad Saarow überfallen und ein Jahr später den Manager Stefan T. aus seiner Villa in Storkow entführt hat. Zumindest vier der Richter müssen für den Schuldspruch von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt gewesen sein.
Die Menschen im Saal dürfen sich setzen, es wird getuschelt. Schon jetzt sorgt das Urteil für Diskussionen. Mario K., der sonst völlig emotionslos den Prozess verfolgte, der gesagt hat, er sei der Falsche, ringt um Fassung. Er lehnt sich nach hinten, nimmt einen Stift, starrt darauf und dreht ihn in den Händen. Es ist ein hartes Urteil, mit dem nicht jeder im Saal gerechnet hat. Zu sehr hatte sich an den 59 Verhandlungstagen der Berg der Zweifel, dass da der Richtige auf der Anklagebank sitzt, aufgetürmt. Zu gravierend waren die Pannen bei der Ermittlungsarbeit der Polizei, die in dem Prozess zur Sprache kamen. Mario K. hat das nicht geholfen.
Warum? So recht beantwortet der Richter diese Frage nicht. Matthias Fuchs sagt, der Angeklagte habe nach der letzten Haftentlassung im Jahr 2009 nicht etwa Arbeit gesucht. Mario K. hat demnach von Anfang an geplant, ein Mitglied aus einer reichen Familie zu entführen und sich mit dem Lösegeld seinen Unterhalt zu sichern. Im August 2011 hielt sich Mario K. auf dem Grundstück der Familie P. in Bad Saarow auf, um die Familie auszuspionieren. Die Hunde spürten ihn jedoch laut bellend auf, die 62-jährige Hausherrin ging nachschauen. Sie wurde vor dem Haus von Mario K. niedergeknüppelt. Aber warum schlug er dann siebenmal mit voller Wucht zu, wenn er doch – wie Fuchs meint – nur abhauen wollte?
Bei der nächsten Tat im Oktober, da ist sich die Strafkammer sicher, wollte Mario K. die Tochter der Familie P. entführen. Dabei schoss er mit Tötungsvorsatz auf den Bodyguard, der sich dem Angreifer in den Weg gestellt hatte. Der Mann ist seitdem querschnittgelähmt.
Fuchs erzählt weiter, dass Mario K. fast genau ein Jahr später eine andere, in der Nähe lebende reiche Familie suchte. Die Familie des Managers Stefan T., die am Storkower See eine Villa bewohnt. „Er wusste ja nun, dass es nicht so einfach war, Frauen zu entführen“, sagt der Richter. Mit Waffengewalt verschleppte Mario K. im Oktober 2012 den großen, mehr als 100 Kilogramm schweren Mann. Warum er sich nicht den zehnjährigen Sohn griff, der bei seinem Vater im Zimmer war – auch das bleibt ein Rätsel.
Der Richter sagt, man habe keinerlei Zweifel an dem von der Geisel geschilderten Tathergang. „Es gibt kein erkennbares Motiv, dass es sich um eine Lügengeschichte handelt.“ Glaubhaft ist demnach, dass sich Stefan T. am Seeufer vor seinem Haus mit einer Schlinge um die Brust, gefesselt und mit verbundenen Augen an ein Kajak hängen musste und mehr als eine halbe Stunde über den Storkower See gezogen wurde. Glaubhaft ist, dass er auf eine Luftmatratze umsteigen musste und so bis zu einer sumpfigen Insel im Schilf gezogen wurde. Bei 13 Grad kaltem Wasser und einer nächtlichen Temperatur nahe Gefrierpunkt. Bei so einer Wassertemperatur gehe man schon mal in die Ostsee, und eine Nacht bei fünf Grad könne man schon überleben, so lapidar wischt der Richter etwaige Bedenken weg.
Merkwürdig hingegen ist, dass Mario K. wegen seiner schweren Knieverletzung eigentlich nicht durch den Morast zu der Insel hätte gehen können. Dort musste Stefan T. Erpresserbriefe an seine Frau schreiben, in denen der Täter eine Million Euro Lösegeld verlangte. Das Geld sollte bei einer Art Schnitzeljagd übergeben werden. Die Briefe wurden frankiert. Der Täter ließ Stefan T. schließlich gefesselt zurück. Wasser sollte er mit einen Plastikschlauch aus dem See trinken. „Die Erpresserbriefe wurden offenbar nie in einen Briefkasten geworfen“, stellt Fuchs fest. Warum nicht? Der Richter bleibt auch diese Antwort schuldig.
Aber er ist überzeugt, dass K. alle drei Taten begangen hat. Beim ersten Verbrechen sei der Angeklagte mit einem Kajak geflohen. Das Boot habe er auch zur Entführung von Stefan T. genutzt. Die Waffe, mit der Mario K. auf den Leibwächter schoss, benutzte der Angeklagte auch bei der Entführung.
Das wichtigste Indiz aber sieht das Gericht in den Vorstrafen des Angeklagten. 1997 hatte Mario K. mit einer Ceska um sich geschossen. Eine Waffe desselben Typs benutzte der Maskenmann. Noch eindeutiger aber sind für ihn die 2004 begangenen Verbrechen des Angeklagten. Da lebte Mario K. wild auf einer Insel in den Gosener Wiesen, die ähnlich sumpfartig war, wie der Ort, zu dem Stefan K. entführt wurde. Auch damals benutzte Mario K. ein Kajak. Er paddelte zu Jachten, brach dort ein, zündete sie dann an und transportierte das Diebesgut auf eine Luftmatratze ab. „Das sind erstaunliche Parallelen“, sagt Fuchs. Und die gleichen Methoden, um an Geld heranzukommen. „Nur dass er jetzt gelernt hat, dass man Leute entführen muss, um an die begehrten Millionen zu gelangen.“
Eine Stunde und 45 Minuten redet der Vorsitzende Richter. Er begründet darin, warum das Gericht die Höchststrafe verhängt hat. Dabei schaut er den Mann, den er verurteilt hat, nicht ein einziges Mal an. Fuchs spricht zu den beiden Staatsanwälten, zu den vier Opfern und ihren Anwälten. Manchmal schaut er auch ins Publikum.
Matthias Fuchs verliert kein einziges Wort zu den verheerenden Polizeipannen, die in den Ermittlungen gemacht wurden. Kein Wort über die Kriminalisten der damaligen Sonderkommission, die Zweifel an den Schilderungen des Entführten hegten, die kritische Fragen stellen wollten und mundtot gemacht wurden. Kein Wort über den Leiter der Soko, der diese Fragen mit dem Hinweis untersagte: Einem Opfer mit solchem finanziellen Hintergrund stelle man solche Fragen nicht. Dies beschädige das Ansehen der Brandenburger Polizei. Kein Wort, dass so etwas niemals hätte geschehen dürfen, wie es der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Peter Neumann, immer wieder gesagt hat.
Empörte Verteidiger
Axel Weimann ist nach dem Urteil die Fassungslosigkeit und die Wut anzusehen. Der Berliner Strafverteidiger kommt mit rotem Gesicht aus dem Saal. Er nennt die Urteilsbegründung eine Kopie des Plädoyers der Staatsanwaltschaft. Sein Mandant sei erschüttert über den Schuldspruch. Weimann kündigt an, gegen die Entscheidung des Gerichts Revision beim Bundesgerichtshof einlegen zu wollen. „Wir haben ein Jahr lang versucht, dieses Fehlurteil zu verhindern. Es ist uns leider nicht gelungen.“ Die Verteidigung habe am heutigen Tag feststellen müssen, dass Zweifel offenbar nichts mehr bedeuten würden und der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ in diesem Verfahren abgeschafft worden sei.
Und Mario K.? Ihm sind im Gerichtssaal wieder die Handschellen angelegt worden. So gefesselt wird er durch einen Seitengang zum Gefangenentransport geführt. Mario K. wird zurückgefahren in die Justizvollzugsanstalt nach Cottbus-Dissenchen. Dort wird er auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs warten.