Mehr Menschen, weniger Nahrungsmittel: Ansturm auf die Ausgabestellen der Tafeln
Lydia Schmuck engagiert sich mit „Laib und Seele“ bei der Ausgabestelle in Tempelhof. In kurzer Zeit gab es 50 neue Anmeldungen, die Spenden müssen rationiert werden.

Obst- und Gemüsekisten stapeln sich vor Orgelpfeifen in der Kirche auf dem Tempelhofer Feld. In einer dieser Kisten liegt eine Packung grüne Weintrauben, darauf leuchtet ein roter Aufkleber: „30 Prozent reduziert“. Doch die Kundinnen und Kunden zahlen hier nur einen symbolischen Euro pro Einkauf und Person.
Denn jeden Dienstag wird die Rundkirche in Tempelhof zur Ausgabestelle der Berliner Tafel umfunktioniert, das Projekt heißt „Laib und Seele“. Etwa 200 Menschen kommen jede Woche, aber seit Beginn des Krieges in der Ukraine müssen die Helfer noch knapper kalkulieren, da immer mehr Menschen kommen. Über 40 Menschen helfen hier auf ehrenamtlicher Basis. Je nach Größe der Familie packen die Mitarbeitenden an den Ständen kleinere Kisten halb oder ganz voll.
Ehrenamtliche Mitarbeiter tun aber mehr als nur Lebensmittel über Tische reichen. Sie versuchen in kurzen Gesprächen mit den Gästen, mehr über ihre Situation zu erfahren, damit sie besser helfen können: „Möchten Sie Eier? Käse auch?“ Nicht immer werden sie verstanden. Ein bärtiger Mann zeigt zwei eingeschweißte Karten: „2 Erwachsene, 1 Kind“ steht darauf. Er spricht kein Deutsch.
Viele Neuankömmlinge, eine Übersetzerin
Dies ist eine von 46 „Laib und Seele“-Ausgabestellen in Berlin. Kommen darf, wer ein niedriges Einkommen und eine der fünf Postleitzahlen ringsum nachweisen kann. Auch die Sachspenden beziehen die Helferinnen aus der Gegend, um nicht mit anderen Ausgabestellen zu konkurrieren und auch wegen der kürzeren Wege. Schließlich müssen sie die Sachen zunächst abholen.
„In den letzten drei Wochen hatten wir 50 Neuanmeldungen“, sagt Lydia Schmuck, in der Hand hält sie die Anmeldezettel, die sie gerade eigens gezählt hat. Die Sozialarbeiterin im Ruhestand engagiert sich seit 2006 hier, montags bereitet sie vor und mittwochs nach. Etwa die Hälfte der neu angemeldeten Menschen sind aus der Ukraine, im Moment reicht der ukrainische Pass noch als Nachweis der Bedürftigkeit. Glücklicherweise hat sich eine Ukrainerin gefunden, die für die Neuankömmlinge übersetzt. „Sie helfen mir, also helfe ich ihnen“, sagt Mariia Schwarz, die vor vier Jahren aus Odessa nach Berlin gezogen ist.

Auch Schwarz geht zur Tafel seit ihre Eltern geflüchtet und bei ihr untergekommen sind. Sie wohnt in der Gegend und hat sich bereit erklärt Ukrainerinnen zu erklären, wie die Anmeldung und die Ausgabe funktioniert: eine Unterschrift wegen einiger abgelaufener Lebensmittel, keine Selbstbedienung, Abstand und Maske. Hier ist Corona noch nicht vorbei. Werner Pietzsch weist am Einlass darauf hin. „Manche sehen es nicht ein und die Maske hängt dann wieder unten. Als Corona noch kritisch war, konnten wir nur zehn Leute reinlassen“, sagt er. Inzwischen lässt er ein, wenn am ersten Stand kaum noch jemand steht.
Kaffeekränzchen vor der Tür
Die Tafeln sind eigentlich ein Ort an dem man sich begegnet, manchmal Freundschaften schließt. Ein Paar das sich hier kennengelernt hat, habe sogar geheiratet, erzählt Schmuck. Neue Bekanntschaften entstehen nun nicht mehr im Café, sondern draußen beim Warten. Nach einem Buchstabensystem werden Uhrzeiten zwischen 14 und 15.30 Uhr zugeteilt, die dann jede Woche rotieren. Wer wichtige Arzttermine oder andere Gründe hat, darf um 13.30 Uhr kommen. Trotzdem bildet sich eine Schlange.

Vor der Kirche stehen stille Rentner mit Einkaufstrolleys, Mütter mit Kinderwägen, zusammengesackte Gestalten, aber auch plaudernde Mittfünfziger. Auf einer steinernen Abgrenzung vor der Kirche wartet Janina mit Walter und Egon, die sie von den Dienstagen hier kennt. Ihre richtigen Namen wollen die drei nicht nennen. Fotos? Auf keinen Fall. „Vielen ist es peinlich, herzukommen. Das können wir aber ganz gut auffangen“, sagt Schmuck. Einige weinen, wenn sie das erste Mal da sind. Das Eingeständnis, es nicht allein zu schaffen, sei am Anfang noch schwer, aber dafür sei die Ausgabestelle ja da, meint Schmuck.
Neben seiner finanziellen Situation kommt Walter auch wegen der Leute, die man hier trifft. Seit das Café geschlossen ist, machen sie ihr Kränzchen vor der Tür, mit mitgebrachtem Kaffee. Wenn Janina um 14 Uhr dran ist, rechnet sie damit, um 16 Uhr zu Hause zu sein. In letzter Zeit verschiebe sich das manchmal, auch wegen der Neuanmeldungen.
Über die Jahre entwickeln sich zwangsläufig Beziehungen, sie freue sich auf das Widersehen und wenn jemand fehlt, sorge sie sich, erzählt Janina. „Wir arrangieren uns und lassen uns die gute Laune nicht verderben. Es ist ein Geben und ein Nehmen“, sagt die alleinerziehende Mutter. Die Bekannten aus der Warteschlange helfen ihr auch mal bei handwerklichen Problemen zu Hause.
Die drei müssen sowieso zusätzlich einkaufen gehen, so sei es ja auch gedacht. Aber in letzter Zeit würden merklich weniger Spenden abgegeben. Manchmal probiere sie wegen des Angebots Neues aus. „Man muss kreativ sein“, sagt sie.
Schmuck weiß nie genau, mit welchen Spenden sie rechnen kann. „Meistens reicht es. Aber wir teilen eben auch ein“, sagt sie. Manchmal kommen doch weniger Menschen zur Kirche als gedacht – was übrig bleibt, holen die Leute vom Foodsharing. Schmuck ist es ein großes Anliegen, mit ihrer Arbeit der Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken. „Für uns wird es manchmal schwierig“, sagt sie. „Aber auf der anderen Seite ist es gut, dass die großen Konzerne inzwischen knapper einkaufen.“