Meine Woche: Ein Zugbegleiter für alle Fälle

So ist das nun mal: Wenn man Zugbegleiter ist, muss man sich an unterschiedliche Arbeitszeiten gewöhnen. Am vergangenen Dienstag zum Beispiel dauerte meine Schicht von 12.17 Uhr bis 22.42 Uhr. Am Sonnabend war ich von 6.17 Uhr bis 13.42 Uhr im Einsatz, am Sonntag von 6.17 Uhr bis 17.42 Uhr. Nur eines bleibt gleich: Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen bin ich immer mit den Zügen der Oderlandbahn zwischen Berlin-Lichtenberg, Strausberg und Kostrzyn in Polen unterwegs. Obwohl ich stets dieselbe Strecke Richtung Osten und zurück fahre, wird mir nie langweilig. Hier geht es zugleich familiär und international zu.

Was ich damit meine? Von den Berufspendlern kenne ich so gut wie alle. Dazu gehören auch viele Polen, die morgens von Kostrzyn nach Berlin fahren oder am Sonntag zurück zu den Arbeitsstellen in Holland oder der Schweiz. Es sind Handwerker, Altenpflegerinnen, Putzfrauen.

Die Stammkunden sind wie Familien, es gibt richtige Cliquen im Zug. Klar, dass man sich auch Probleme erzählt. Etwa: Meine Tochter ist mit einem Hooligan zusammen. Oder: Mein Mann geht fremd. Solche Sachen. Ich merke sofort, wenn es jemandem mal nicht gut geht. Oder wenn jemand fehlt. Einige meiner Stammkunden habe ich sogar schon im Urlaub getroffen, an der Ostsee oder sogar in der Türkei.

Elisabeth und ihr „Stern von Rio“

Natürlich sind nicht alle Stammkunden nett. Manche ärgern sich schon über die sprichwörtliche Fliege an der Wand. Aber mit den meisten Fahrgästen komme ich gut aus. Da kann es schon mal vorkommen, dass ich bei Frau Fiske per Telefon Döner oder türkische Pizza bestelle, wenn jemand Hunger hat.

Frau Fiske hat in Rehfelde, wo die Oderlandbahn hält, einen Imbiss und beliefert uns schon seit acht Jahren. Meist sind es allerdings Getränke, mit denen sie am Bahnhof auf den Zug wartet. Zu meiner Arbeit gehört es auch, den Fahrgästen Kaffee, Eistee und Wasser zu verkaufen. Wenn etwas davon ausgeht, ordere ich nach. Frau Fiskes Kaffee kostet 80 Cent und ist wirklich gut, der Eistee ist von ihr selbst gemacht.

Übrigens sind nicht alle Stammfahrgäste Berufspendler. Vor allem an den Wochenenden unternehmen viele ältere Leute mit uns einen Ausflug nach Kostrzyn. Einige fahren dort hin, weil sie nicht so viel Geld haben, sich aber mal etwas Schönes gönnen wollen. Man kann gut und preiswert essen gehen in Kostrzyn, die Stadt hat sich gemacht. Das nutzen auch viele, die Hartz IV beziehen. Es fahren auch Senioren mit, die wohlhabender sind, aber mal wieder unter Leute wollen. Ich kenne eine Frau, die kommt seit Jahren regelmäßig aus Magdeburg und mietet sich im Hotel Nova am Bahnhof Lichtenberg ein, damit sie möglichst früh mit uns nach Kostrzyn fahren kann.

Und dann war da noch Elisabeth, die in den 30er-Jahren ganz schön flott gewesen sein muss. Sie war immer geschminkt und frisiert, und sie hatte immer etwas zu erzählen. Sie nannte mich immer „Stern von Rio“. Ich weiß auch nicht genau, warum. Leider ist sie jetzt im Seniorenheim und reist nicht mehr.

Am Wochenende waren mal wieder viele Berliner, die einen Ausflug machten, mit uns unterwegs. Das Fahrradabteil war gut gefüllt. Ich ärgere mich oft, wenn ich sehe, wie egoistisch einige sind. Die stellen ihr Rad einfach irgendwohin oder nehmen die Gepäcktaschen nicht ab, sodass nicht so viele Fahrräder mitgenommen werden können.

Was ein Zugbegleiter braucht? Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen. Und er muss gern mit Menschen arbeiten. Manchmal sind wir auch Ärzte und Krankenpfleger. Einmal habe ich erlebt, dass ein alter Mann kurz vor dem Zusammenbruch stand. Der war ganz bleich und hatte offenbar niedrigen Blutdruck. Ich habe ihm Kaffee gebracht und ein Stück Kuchen. Dann ging es ihm wieder etwas besser.

Die Fahrkartenmafia reist mit

Nicht jeder Fahrgast will mit uns nur von A nach B fahren. Einige wollen auch Geld im Zug verdienen. Ich nenne sie die Fahrkartenmafia. Meist sind es Frauen. Sie kaufen sich eine Wochen- oder Monatskarte, mit der sie abends und am Wochenende andere Fahrgäste kostenlos mitnehmen dürfen; oder ein Berlin-Brandenburg-Ticket, das für bis zu fünf Personen gilt. Dann fragen sie herum, wer mitfahren will. Für eine Mitfahrt von Kostrzyn nach Berlin kassieren sie meist fünf Euro, der Normaltarif beträgt 11,40 Euro. Rechtlich ist das ein Graubereich.

Unangenehm finde ich die Leute, die in Berlin Kaffee und Schokolade klauen und dann versuchen, sie im Zug zu verkaufen, das Pfund Kaffee für drei Euro. Schmuggel von Polen nach Deutschland habe ich auch schon erlebt. Einmal waren zwei Fahrgäste mit dreißig Flaschen Jim Beam nach Berlin unterwegs. Sie wurden in Lichtenberg von der Bundespolizei erwartet.

Aber das Schöne überwiegt. Ich erlebe jeden Tag Neues. Abends freue ich mich, dass wir vielen etwas Gutes getan haben. Ich habe als Dank schon mal ein Glas Marmelade geschenkt bekommen und auch ein Bier zum Feierabend. In welchem Beruf gibt es so was? Deswegen bin ich so gerne mit der Oderlandbahn unterwegs, diese Strecke ist etwas Besonderes. Ich möchte nirgendwo sonst arbeiten.

Notiert von Peter Neumann.