Berlin-Vielleicht taucht der Brief an Jimmy Carter eines Tages in dessen Gedenk-Bibliothek wieder auf. Jener Brief, den Steegs ausreisewillige Eltern im April 1977 an den amerikanischen Präsidenten schickten. Sie baten um Hilfe – und die Stasi nahm die Antwort aus den USA zu ihren Unterlagen. Ein Jahr später wurde Ralf Steeg, der Sohn, wegen versuchter Republikflucht in die Jugendhaftanstalt „Frohe Zukunft“ in Halle gebracht. Er war 17 Jahre alt.
Mehr als 40 Jahre später steht Ralf Steeg, 59 inzwischen, im Osten Berlins an der Spree. Er ist Ingenieur für Landschaftsbau und Umweltplanung geworden, ist quer durch die Welt gereist, verfolgt beharrlich seine Vision von sauberen Flüssen. Und er wundert sich, woher er einst den Mut nahm, sich als Jugendlicher gegen den kompletten DDR-Staat zu stellen. Im brandenburgischen Städtchen Lauchhammer hatte er eine gute Kindheit gehabt, er besuchte eine gute Schule, war ein begeisterter Jungpionier gewesen. Als er dann aus der Enge der DDR herausdrängte, als feststand, dass er, sein Bruder und der Vater ausreisen wollten und damit das System infrage stellten, wandte sich der Apparat gegen ihn: Steeg wurde bei Verhören verprügelt und von seinem besten Freund bespitzelt. Und musste schließlich ins Gefängnis. Inhaftiert war er von April 1978 bis Februar 1979.
Steeg geriet in ein System, in dem Tausende verheizt wurden. Denn im Gefängnis ging es auch um Geld: Mehr als 250 Millionen Ost-Mark nahm das DDR-Innenministerium allein im Jahr 1986 von den volkseigenen Betrieben ein, denen es Strafgefangene „überlassen“ hatte. Oft, um Ware für Westfirmen zu produzieren. So zeigt es der Historiker Tobias Wunschik in seinem Buch „Knastware für den Klassenfeind“ auf.
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Das „Recht auf Arbeit“, wie es in der DDR-Verfassung stand – hier wurde es zum Zwang. Über Jahrzehnte war die Arbeit von Strafgefangenen unter erbärmlichen Bedingungen eine Einnahmequelle für die DDR. Die VEB konnten auf diese Weise gefährliche Arbeiten ohne Rücksicht auf Verluste vorantreiben – und mussten kaum etwas dafür bezahlen. Und Westfirmen konnten hier billig Produkte produzieren, um damit die Konkurrenz durch Preisdruck auszuschalten. Auch nach dem Fall der Mauer fand eine Entschädigung durch Westfirmen nie statt.
Die Deals von Westfirmen mit der DDR
„Ich war renitent bis zum Anschlag“, sagt Ralf Steeg schlicht. Vielleicht war es diese Charaktereigenschaft, die ihn vor einem Zusammenbruch bewahrte. In seiner Stasiakte las er später, dass man ihn auch im Westen noch beobachtet hatte, dass man von Ost-Berlin aus Leute um ihn herum postiert hatte, den Briefverkehr mit seiner Oma überwachte. Damals, als seine Geschichte mit der DDR zu Ende war, sagte er zu einer Freundin, er müsse die 90.000 Mark Auslöse, die der Westen für ihn bezahlt habe, zurückerstatten. Ein Scherz – und ein Lackmus-Test, wie die junge Frau zu ihm stand.
Doch dann stand er eines Tages in der Ikea-Filiale in Berlin-Spandau, wollte sich ein paar Möbel kaufen. Und sah dieses Stück Metall, das er hatte bearbeiten müssen, den Blechschirm des Lampenmodells „Svit“. Er hatte die Kartons im Jugendgefängnis gesehen, Ikea hatte nicht auf ihnen gestanden, aber der Lampenname. Er hatte nicht gewusst, dass seine Plackerei das Ergebnis eines der vielen Deals von Westfirmen mit der DDR war.
„Diese Metallteile waren so weiß, das ist mir aufgefallen“, sagt Steeg. Auch wenn er den Namen „Svit“ auf der Verpackung nicht deuten konnte. „Die hätte man als Lampen nehmen können in dieser dunklen DDR, die so grau war und schwarz; und wir waren ja auch grau und schwarz und alles war voller Öl und nichts war richtig beleuchtet.“
Im Herbst veranstaltete die UOKG, die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft, ein „Tribunal“ in Cottbus. Gefragt wurde, „ob Merkmale verbotener Zwangsarbeit und Ausbeutung nach international anerkannten Definitionen“ bei den ehemaligen politischen DDR-Häftlingen zuträfen. Denn dann, so die Hoffnung, würde den Opfern vielleicht geholfen. In Cottbus klagten fast alle ehemaligen Häftlinge über langfristige Folgeschäden: von Kopfschmerzen, Albträumen und Migräneattacken über posttraumatische Belastungsstörungen und Organschäden wie Niereninsuffizienz. Oft die Konsequenz aus der Arbeit an Exportartikeln für den Westen. Auch Ralf Steeg ist in Cottbus gewesen.
Im Jugendgefängnis herrschten die Stärksten, Chefs genannt
„Es war Zwangsarbeit, reiner Terror“, so beschreibt Ralf Steeg den damaligen Alltag in der Haftanstalt. 800 Jugendliche saßen mit ihm in dem euphemistisch Jugendhaus genannten Jugendgefängnis ein. Nur er und ein weiterer Häftling waren „Politische“, also Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. „Es herrschte ein Wolfsregime“, sagt Steeg. Viele Jugendliche seien verroht gewesen, waren von klein auf durch Heime gegangen, die Pädagogik vorschützten, aber auf Prügelstrafen vertrauten.
Im Jugendgefängnis dominierten die Stärksten, Chefs genannt, die „Politischen“ standen ganz unten in der Hierarchie. In der „Frohen Zukunft“ verteilten die Chefs nach Gutdünken Prügel an die Mitgefangenen, beschlagnahmten, was die Eltern der anderen bei Besuchen mitbrachten, und stopften sich damit ihre Spinde voll. Manche Kinder seien halbtot geprügelt worden, sagt Steeg. Er selbst habe nur überlebt, weil er sich bei der ersten „Klatschung“, dem rituellen Prügeln, anders als der Rest verhielt: „Ich habe mich wie wahnsinnig gewehrt.“ Vielleicht war es das, was ihn gerettet hat. Die Wachen schauten weg. Ihnen sei es komplett egal gewesen, so Steeg, wie sich die Häftlinge untereinander verhielten. Hauptsache, sie waren als Arbeitskräfte zu gebrauchen und erfüllten die Norm, schafften die Mindestanzahl herzustellender Objekte.
„Es stand nicht im Vordergrund, dass die Arbeit zwecks Resozialisierung geleistet werden sollte“, erklärt der Historiker Jan Philipp Wölbern, der sich in Studien und in seiner Dissertation mit dem Thema beschäftigt hat. „Das stand zwar auf dem Papier so: Erziehung zur gesellschaftlich nützlichen Arbeit. Von der Anlage des Systems ging es aber darum, Arbeitskräfte möglichst ausführlich für die Volkswirtschaft auszunutzen.“ Tatsächlich waren Hunderte, manchmal auch Tausende Strafgefangene in dieser Schattenwirtschaft für den Export beschäftigt, teilweise sogar mehr als die eigentlichen VEB-Mitarbeiter. Und die anstrengendsten Arbeiten wurden den „Politischen“ überlassen. Im Stahl- und Walzwerk Riesa waren laut Wunschik beispielsweise bis zu 75 Prozent Häftlinge dieser Kategorie im Einsatz, bei der Praktika-Kamera-Herstellung 40 Prozent.
Das stand zwar auf dem Papier so: Erziehung zur gesellschaftlich nützlichen Arbeit. Von der Anlage des Systems ging es aber darum, Arbeitskräfte möglichst ausführlich für die Volkswirtschaft auszunutzen.
„Der Anreiz war für viele Unternehmen einfach zu groß“, sagt der Historiker Christian Sachse, der sich seit langem mit dem Thema befasst. „Die Profitmargen waren – gelinde gesagt – fantastisch.“ Von Möbeln über Federbetten und Waschmaschinen bis zu Kleidern reichte das Angebot. Abnehmer waren vor allem Versandhäuser wie Quelle, Kaufhof und Horten – und Ikea. Die Beteiligten hatten bei der halbstaatlichen „Treuhandstelle für Interzonenhandel“ in West-Berlin Warenkontingente ausgehandelt. Damit sollte der Preiskampf begrenzt werden, sagt Sachse.
Denn tatsächlich waren die Produkte aus dem Osten durch die staatlich vergebenen „zinslosen Überziehungskredite“ hochsubventioniert. Allein der zollfreie innerdeutsche Warenverkehr kostete die Bundesrepublik jährlich Millionen. Und die DDR nutzte ihre Möglichkeiten so gut wie möglich, sagt der Historiker: „Die DDR hat beispielweise bei den Tschechen Textilien gekauft und anschließend zu einem DDR-Produkt umetikettiert, um es zollfrei in den Westen zu verkaufen.“
Es gab Fernsehsendungen wie „Hilferufe von Drüben“
Viele westdeutsche Unternehmen wussten, dass an ihren Produkten widerrechtlich Inhaftierte mitarbeiteten. Es gab Fernsehsendungen wie „Hilferufe von Drüben“, in manchen Wäschestücken aus der DDR fanden Westdeutsche Kassiber, kleine Zettel. „Wir sind Gefangene in Hoheneck, wir grüßen euch!“ stand beispielsweise darauf.
Ikea ließ lange in der DDR produzieren, ab 1969 bis zum Ende des Staates. Zur Aufarbeitung ließ Ikea vom Wirtschaftsprüfungsunternehmen Ernst & Young 2012 eine Studie erstellen. Dort stellten die Prüfer fest: „Ikea hatte als Organisation möglicherweise ab dem Jahre 1978, spätestens aber ab dem Jahre 1981, Kenntnisse über den möglichen Einsatz politischer Gefangener in einzelnen der für das Unternehmen relevanten Produktionsstandorten und/oder Zulieferbetrieben der DDR. Ikea missbilligte möglicherweise ab dem Jahre 1978, spätestens aber ab dem Jahr 1981, den möglichen Einsatz von politischen Gefangenen in einzelnen der für das Unternehmen relevanten Produktionsstandorten und/oder Zulieferbetrieben der DDR.“
Eine Entschuldigung von Ikea durch eine Pressesprecherin erfolgte erst während der Konferenz in Cottbus, auf einen Tweet von Ralf Steeg hin. Und das ist an Aufarbeitung weit mehr, als viele andere Unternehmen noch zu leisten bereit sind. Während Ikea die Bereitschaft betonte, auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung finanziell einzuspringen, sind andere Unternehmen still oder geben nur wolkige Erklärungen ab.
Ein Koffer als eine Art Abschiedsgeschenk
Ralf Steeg wurde freigekauft. Man brachte den knapp 18-Jährigen ins Gefängnis nach Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), wo politische Häftlinge auf ihren Transport in den Westen warteten.
„Die Bundesregierung hat jährlich ungefähr 1000 politische Gefangene freigekauft“, sagt der Historiker Wölbern. „Der Gegenwert eines Häftlings lag ungefähr bei 96.000 DM in den 70er- und 80er-Jahren, das wurde in Form von Warenlieferungen an die DDR transferiert.“ Schalck-Golodkowskis Mitarbeiter, die den Außenhandel regierten, hätten das dann wiederum sofort in Devisen umgewandelt, mit denen Schulden bezahlt wurden.
„Aus der DDR habe ich nur einen schweinsledernen Reisekoffer mitgenommen“, berichtet Steeg ohne einen Anflug von Sentimentalität. 200 Ost-Mark erhielt er vom ostdeutschen Staat für seine Arbeit in der Haft; in den Westen durfte er das Geld nicht mitnehmen. So wurde der Koffer zum Abschiedsgeschenk. Steeg fuhr in einem Bus in den Westen, vorne und hinten schwarze Limousinen der Staatssicherheit, die erst kurz vor der Grenze abbogen. Im Bus sei es totenstill gewesen, als sie an der innerdeutschen Grenze durchgewunken wurden, sagt Steeg.
Der erste Gruß der Bundesrepublik kam von einem älteren Mann, der nach der Überquerung des Grenzübergang zustieg und an die Ex-Häftlinge Obst, belegte Brote und Zigaretten ausgab. Das Kapitel DDR ist für Steeg abgeschlossen. Ikea hat er bis heute nicht verziehen.