Mit Gysi im Restaurant: Menü 1, weil's billiger ist
Berlin - Er kann sich nicht entscheiden. Eine Viertelstunde lang schaut Gregor Gysi in die Karte. Legt sie weg, nimmt sie wieder in die Hand. Gysi ist hin und her gerissen zwischen Burgunderschnecken in Knoblauch-Petersilienbutter gefolgt von Knurrhahn-Filet und Schmorgurken und zum Dessert einen französischen Käseteller. „Ich mag Schmorgurke“, sagt er.
Oder soll er doch Menü 2 nehmen? Dann würde er gebratene Riesengarnelen auf Rucola und das Rinderfilet mit Ratatouille, Pommes Pont Neuf mit Sauce Bernaise wählen. „So ein Rinderfilet ist auch was Gutes.“
Für ein paar Minuten kämpfen in ihm der Salon-Sozi mit dem Fraktionsvorsitzenden der Linken, der Partei, die am meisten Hartz-IV-Empfänger wählen. Gysi entscheidet sich für Menü 1, weil es 32 Euro kostet und 12 Euro billiger als Menü 2 ist.Er sieht aber aus, als würde er lieber das Filet essen.
Restaurant mit langer Tradition
Vielleicht denkt er an seinen Bauch, der mehr und mehr aus dem Verhältnis zur Körpergröße gerät. Wahrscheinlich aber vor allem an sein Image. 2002 saß er nach den rot-roten Koalitionsverhandlungen mit Stefan Liebich und Harald Wolf im Berliner Sternerestaurant Vau. Am nächsten Tag stand es in der Zeitung, ein Journalist am Nebentisch hatte die drei entdeckt. Seitdem bittet sein Pressesprecher: „Gysi isst alles, nur bitte nicht zu teuer.“
Auch deshalb sitzen wir jetzt im Ganymed, einer französischen Brasserie am Schiffbauerdamm, die ein gutes Preis-Leistungsverhältnis und eine lange Geschichte hat. Das Ganymed mit seiner fantastischen Stuckdecke existiert schon seit den 30er Jahren. In der DDR konnte, wer hier einen Platz bekam, für einige Stunden auswandern: In eine bürgerliche Welt voll Silberplatten, Crèpe Suzette und befrackten Kellnern – in der DDR unerhört und doch nie ganz totzukriegen.
Gysi, der aus einer bürgerlichen Familie kommt, war nach der Scheidung seiner Eltern ein paar Mal im Ganymed. Vater Klaus, einst Kulturminister der DDR, führte ihn und die Schwester Gabriele an den Besuchstagen hierher.
Äußerlich hat es sich kaum verändert. Ein bisschen weniger plüschig, dafür französisch sei es geworden, jetzt mit rot-weiß karierten Tischdecken statt weißen Leinen.
Hart erarbeitete Prominenz
Schon als Kind aß er gerne Weinbergschnecken, einmal Froschschenkel, die gab es sonst nirgendwo. Was der Unterschied zwischen Burgunder- und Weinbergschnecken sei, fragt er den Kellner. Der weiß es nicht. Gysi pult die Schnecken, die in den Weinbergen der Bourgogne nur unter strengen Auflagen gesammelt oder gezüchtet werden, geübt aus dem Gehäuse. Sie duften gut, der Knoblauch nicht zu dominant. Es ist das Aroma seiner Kindheit. Gysi isst mit großem Appetit, ebenso schnell wie er denkt und redet. Wir sind beim Thema Arbeitsessen.
Bis zur Wende war Essengehen für ihn etwas Besonderes, erzählt er. „Wir Rechtsanwälte haben pauschal 20 Prozent für die Steuer abgeführt. Arbeitsessen auf Rechnung gab es nicht.“
Heute bespricht jeder alles bei einem Essen, auch weil im gesamtdeutschen Steuerrecht viel zu viel absetzbar ist.
Die Parteivorsitzende Gesine Lötzsch bringt es vielleicht auf eine Einladung pro Woche. Gysi sitzt jetzt vier bis fünf Mal die Woche im Restaurant, beruflich. Mit Fraktionskollegen, dem Lions-Club, der Bild-Zeitung, Oskar Lafontaine, Mario Adorf oder der niederländischen Königin. Für einen Politiker der Linken ist er verdammt gefragt. Doch Gysi ist eben Gysi. Eine Prominenz. „Die muss man sich erst erarbeiten“, sagt er, „auch durch essen.“
Vor ihm auf dem Teller liegt der letzte Bissen Knurrhahn, der mit einer Brandade – ein Püree von gedünstetem Stockfisch und Kartoffeln – serviert wird.
Horst Seehofer hat einmal behauptet, Arbeitsessen sind die moderne Fortsetzung der mittelalterlichen Folter. Gysi sieht gar nicht gequält aus. Im Gegenteil, es schmeckt ihm heute ausgezeichnet.