Graefekiez ohne Parkplätze: Sitzung zu umstrittenem Experiment vertagt

Auf Antrag der CDU sollte das Bezirksparlament über den Verkehrsversuch im Graefekiez diskutieren. Aber dazu kam es nicht. Die Vorbereitungen gehen weiter. 

Eines der schönsten Altbauviertel in Berlin: Der Kiez rund um die Graefestraße, die nach dem Augenarzt Albrecht von Graefe (1828-70) benannt wurde, liegt südlich des Landwehrkanals.
Eines der schönsten Altbauviertel in Berlin: Der Kiez rund um die Graefestraße, die nach dem Augenarzt Albrecht von Graefe (1828-70) benannt wurde, liegt südlich des Landwehrkanals.Sabine Gudath

So viel steht fest: Die letzte Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg vor der Wahl dürfte als eine der kürzesten Zusammenkünfte dieser Art in die Geschichte eingehen. Nicht mal fünf Minuten, nachdem sie am Donnerstagabend am Franz-Mehring-Platz begonnen hatte, war sie auch schon wieder vorbei. Zu der Debatte über den Modellversuch Graefekiez, die sich die Christdemokraten erhofft hatten, kam es nicht. CDU-Fraktionschef Timur Husein warf den Grünen, der SPD und der Linken, mit deren Stimmen die Vertagung beschlossen wurde, Feigheit vor. Die Grünen sprachen dagegen von einer Wahlkampfaktion. Unterdessen gehen die Vorbereitungen für das einzigartige Kreuzberger Mobilitätswende-Experiment weiter.

Die CDU hatte die außerordentliche Sitzung beantragt. Einziger Tagesordnungspunkt sollte der Einwohnerantrag sein, der unter dem Titel „Keine Experimente mit den Menschen im Graefekiez!“ einen sofortigen Stopp des Projekts fordert. Von den Unterschriften, die mit Unterstützung der CDU gesammelt wurden, erkannte das Bezirksamt 1.444 als gültig an – tausend hätten bereits eingereicht.

„Ist ein Einwohnerantrag zulässig, entscheidet die Bezirksverordnetenversammlung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von zwei Monaten nach Eingang des Antrags“, erklärte Timur Husein, der im Hauptberuf Rechtsanwalt ist. In diesem Fall habe die Frist am 28. November 2022 zu laufen begonnen. Doch inzwischen seien schon mehr als zwei Monate vergangen, ohne dass die gesetzliche Vorgabe erfüllt worden sei.

Grüne: „Natürlich nehmen wir den Einwohnerantrag ernst“

Während der Sitzung am 25. Januar schaffte das Thema es zwar auf die Tagesordnung, doch es kam nur zu einem kurzen Schlagabtausch zu später Stunde. Die von der CDU gewünschte Debatte fiel aus, zur weiteren Diskussion wurde der Einwohnerantrag in die Fachausschüsse überwiesen. Nach der Vertagung ist nun absehbar, dass das Bezirksparlament frühestens während der März-Sitzung über den Antrag befindet. Dass es nun zu einer Verspätung kommt, sei „ganz klar rechtswidrig“, stellte Husein fest.

Pascal Striebel, Fraktionschef der Grünen, zeigte sich verwundert angesichts der Vorwürfe. Nach der Sondersitzung sagte er: „Natürlich nehmen wir den Einwohnerantrag ernst“ – auch wenn die Stoßrichtung nicht den Einschätzungen der drei stärksten Fraktionen entspräche. Die CDU habe in einem anderen Zusammenhang  zu Recht darauf hingewiesen, dass Berlins Bezirksverordnetenversammlungen vor der Wiederholungswahl am 12. Februar in wichtigen Angelegenheiten keine Entscheidungen mehr treffen sollen. „Das entspricht dem Gebot der Zurückhaltung, das der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin auch uns auferlegt hat“, erklärte Striebel.

Mobilität als streitträchtiges Wahlkampfthema entdeckt

Wie es in solchen Fällen üblich ist, sei der Einwohnerantrag am 25. Januar in die Ausschüsse überwiesen worden, um ihn tiefergehend und gemeinsam mit den Anwohnern zu diskutieren, so Striebel. Am Donnerstagabend machte der Umweltausschuss den Anfang. Wer Bürgerbeteiligung ernst nehme, sollte sie nicht als „Wahlkampftaktik“ missbrauchen, warnte der Bezirksverordnete.

Die Opposition hat erkannt, dass die Mobilität ein kontroverses und damit für Wahlkämpfe gut geeignetes Streitthema ist. Nachdem Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) bereits heftig unter Beschuss geraten ist, nachdem der mittlere Abschnitt der Friedrichstraße dauerhaft für Kraftfahrzeuge gesperrt und für Fußgänger geöffnet wurde, bietet sich der Modellversuch im Graefekiez als Konfliktanlass an. „Es reicht“, heißt es in einer Wurfsendung, die der CDU-Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg in Hausbriefkästen stecken ließ. Die Aufforderung: „Graefekiez, wähl CDU.“

Nur zwölf Prozent der Befragten nutzen regelmäßig ein Auto

Wie berichtet soll der Altbaukiez südlich des Landwehrkanals in Kreuzberg Schauplatz eines Mobilitäts-Experiments werden, das es in dieser Form in Deutschland nicht gegeben hat. Für die Dauer des geplanten Modellversuchs soll es dort nicht mehr möglich sein, legal ein privates Kraftfahrzeug zu parken – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Der frei werdende Platz auf den Straßen soll anders genutzt werden: zum Spielen, für Grün und Gastronomie. Schulweg- und Verkehrssicherheit sind weitere Themen. In einer repräsentativen Erhebung des Wissenschaftszentrum Berlins (WZB), das den Versuch begleitet, hatten sich 2021 rund zwei Drittel der Befragten im Bezirk prinzipiell für die Abschaffung aller Stellplätze ausgesprochen. In der Berliner Innenstadt ist der Anteil der Autonutzer gering. Von den 1.041 Menschen, die in Friedrichshain-Kreuzberg an der Online-Befragung teilnahmen, gaben nur zwölf Prozent an, dass sie täglich oder fast täglich das Auto nutzen. Allerdings teilten 25 Prozent der Befragten mit, dass sie mehr Parkplätze für wichtig oder sehr wichtig halten.

Behindertenparkplätze und Carsharing sollen erhalten bleiben

Wie berichtet zeichnet sich ab, dass das Testgebiet kleiner ausfällt als angekündigt und nicht den gesamten Graefekiez umfassen wird. In jedem Fall ist nicht beabsichtigt, die betroffenen Straßen für den Verkehr zu sperren, betonen die Planer. „Das Befahren der Straßen soll jedoch grundsätzlich weiter möglich bleiben. Auch Zu- und Anlieferungen sollen weiterhin uneingeschränkt möglich sein“, heißt es im Antrag der Grünen, den die Bezirksverordnetenversammlung im Juni 2022 annahm. „Die Parkplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen sollen erhalten bleiben, ebenso wie weitere Parkmöglichkeiten für stationsgebundenes und auch flexibles Carsharing auf markierten Flächen. Weiterhin soll es ein zusätzliches Angebot für Mieträder und Mietlastenräder geben.“

Am Donnerstag äußerte sich Annika Gerold, die zuständige Bezirksstadträtin, zum Stand des Projekts. Die rechtliche Prüfung, bei der grundsätzliche Fragen geklärt werden, dauere an, sagte die Grünen-Politikerin. Doch an dem Plan, mit dem Modellversuch rechtzeitig zum Beginn der warmen Jahreszeit zu beginnen, habe sich nichts geändert. Zum Auftakt soll es im Frühjahr, spätestens im Frühsommer 2023, auf dem Zickenplatz unter freiem Himmel eine Auftaktveranstaltung mit den Anwohnern geben. Grünen-Fraktionschef Pascal Striebel berichtete, dass das Wissenschaftszentrum Berlin damit begonnen habe, erneut Anwohner zu befragen und Daten für die angekündigte Begleitforschung zu sammeln.

Den Bewohnern des Graefekiezes sollen andere Autostellplätze zur Verfügung gestellt werden – allerdings einige hundert Meter entfernt im Parkhaus am Hermannplatz in Neukölln. Dort sollten sie ihre Fahrzeuge für die Dauer des Feldversuchs zum Vorzugspreis von nur 30 Euro pro Monat abstellen können, lautet das Versprechen.

Billige Stellplätze im Parkhaus Hermannplatz: 30 oder 60 Euro im Monat?

Mit der Galeria Karstadt Kaufhof GmbH, die das Parkhaus bewirtschaftet, gab es dazu bisher aber nur ein kurzes Gespräch, sagte Dominik Haferburg, Bereichsleiter Parkraumbewirtschaftung, am Donnerstag der Berliner Zeitung. Es seien weder Abstimmungen erfolgt noch wurde ein Vertrag geschlossen, der umgesetzt werden kann. „Ich weiß nicht, wie man auf so ein Angebot kommen kann. Es gibt definitiv keine Vereinbarung“, wunderte sich Haferburg. Zwar habe das Parkhaus genug Kapazität, um die zusätzlichen Autos aus dem Graefekiez aufzunehmen. Doch ein Nutzungsentgelt von 30 Euro im Monat, wie es versprochen wird, wäre „utopisch“, gab er zu bedenken.

Wie die Berliner Zeitung erfuhr, soll es zu dem Thema weitere Gespräche zwischen dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg und Galeria Karstadt Kaufhof geben. Klar sei, dass in dem Parkhaus am Hermannplatz mehrere hundert Autostellplätze zur Verfügung stünde. Nun gehe es um das Entgelt. Von Anfang an sei angepeilt worden, dass der Betreiber 60 Euro pro Monat und Stellfläche erhält, hieß es. Möglicherweise könne der Betrag durch Zuschüsse gesenkt werden, sodass die Nutzer weniger bezahlen.